top of page

Aktuelles, Nachrichten

 

Unter dieser Rubrik stellen wir fortlaufend interessante und überwiegend aktuelle Entscheidungen unserer Gerichte und bisweilen auch andere Nachrichten in Kurzform dar. Ältere Nachrichten können Sie unter der Rubrik ARCHIV wiederfinden. Dort haben wir die einzelnen Texte überwiegend nach Rechtsgebieten geordnet.

Bundesgerichtshof

Kein Anspruch auf Beseitigung von Birken auf dem Nachbargrundstück bei Einhaltung des Grenzabstands

Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. Septemner 2019 kann ein Grundstückseigentümer von seinem Nachbarn in aller Regel nicht die Beseitigung von Bäumen wegen der von ihnen ausgehenden natürlichen Immis-sionen auf sein Grundstück verlangen kann, wenn die für die Anpflanzung bestehenden landesrechtlichen Abstandsregelungen eingehalten sind.

Ein Beseitigungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass der Beklagte Störer im Sinne dieser Vor-schrift ist. Hierfür genügt nicht bereits das Eigentum an dem Grundstück, von dem die Einwirkung ausgeht. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, ob es jeweils Sachgründe gibt, dem Grundstückseigentümer die Verantwortung für das Geschehen aufzuerlegen. Wenn es um durch Naturereignisse ausgelöste Störungen geht, ist entscheidend, ob sich die Nutzung des Grundstücks, von dem die Beeinträchtigungen ausgehen, im Rahmen ordnungsgemäßer Bewirt-schaftung hält. So hat der Senat die Störereigenschaft beispielsweise verneint bei Umstürzen nicht erkennbar kranker Bäume infolge von Naturgewalten. In aller Regel ist von einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung auszugehen, wenn – wie hier gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4a i.V.m. Abs. 2 Satz 1 NRG-BW a. F. - die für die Anpflanzung bestehenden landes-rechtlichen Abstandsregelungen eingehalten sind. Kommt es trotz Einhaltung der Abstandsgrenzen zu natürlichen Immissionen auf dem Nachbargrundstück, ist der Eigentümer des Grundstücks hierfür nach der von dem Gesetzgeber vorgenommenen Wertung regelmäßig nicht verantwortlich. Aus Art. 124 EGBGB folgt nichts anderes. Richtig ist zwar, dass der Landesgesetzgeber nicht dem Nachbarn Rechte nehmen kann, die sich aus § 1004 Abs. 1 BGB ergeben. Darum geht es hier jedoch nicht. Vielmehr stellt sich die (Vor-)Frage, ob ein Grundstückseigentümer für natürliche Immissionen überhaupt verantwortlich ist. Scheidet dies aus, gibt es den von dem Berufungsgericht beschriebenen Konflikt zwischen den Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs und den landesrechtlichen Vorschriften nicht. Zudem sprechen §§ 907, 910 BGB und die Gesetzesmaterialien zu diesen Vorschriften dafür, dass der Grundstückseigen-tümer für solche natürlichen Einwirkungen auf das Nachbargrundstück, die von § 910 BGB (Überhang) nicht erfasst werden, regelmäßig nicht verantwortlich sein soll, wenn die Anpflanzungen mit dem Landesnachbarrecht in Einklang stehen. Ein Beseitigungsanspruch lässt sich auch nicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis herleiten, da die Beeinträchtigungen zwar erheblich, aber nicht derart schwer sind, dass der Kläger sie trotz der in § 16 Abs. 1 Nr. 4a i.V.m. Abs. 2 Satz 1 NRG-BW a. F zum Ausdruck gekommenen Wertung nicht mehr hinzunehmen hätte.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. September 2019 – V ZR 218/18 - Pressemitteilung Nr. 123 vom 20.9.2019)

 

VGH Baden-Württemberg

Tarotkartenlegen auf einer öffentlichen Straße ist straßenrechtliche Sondernutzung

Die Tätigkeit des Tarotkartenlegens auf einer öffentlichen Straße der Antragsgegnerin - sei es unter Verwendung eines kleinen Klapptischs und zweier Klappstühle, sei es schlicht mit einem Pappschild auf der Straße sitzend - unterfällt nicht dem Gemeingebrauch nach § 13 Abs. 1 Satz 1 StrG, sondern ist als Sondernutzung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StrG erlaubnispflichtig, ohne hiervon von der Antragsgegnerin freigestellt worden zu sein. Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 StrG ist der Gebrauch der öffentlichen Straßen jedermann im Rahmen der Widmung und der  Straßenverkehrsvor-schriften innerhalb der verkehrsüblichen Grenzen gestattet. Der Umfang des Gemeingebrauchs bestimmt sich in erster Linie nach dem der Straße nach § 2 Abs. 1 StrG generell zuerkannten Widmungszweck „Verkehr“. Darunter fällt nicht nur der Verkehr im engeren Sinne der Ortsveränderung, sondern auch der sog. „kommunikative Verkehr“, der auf Begegnung und Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern gerichtet ist. Allerdings unterfällt der „kommunika-tive Verkehr“ nur dann dem Gemeingebraucht, wenn der Hauptzweck der Nutzung der Ortsveränderung dient (vgl. Senatsurteil vom 31.1.2002 - 5 S 3057/99 - VBlBW 2002, 297, juris Rn. 41; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.4.1992 - 14 S 3212/89 - BWGZ 1995, 68, juris Rn. 17; Urteil vom 26.6.1986 - 1 S 2448/85 - NJW 1987, 1839 <1841>). Die vom Antragsteller beabsichtigte Nutzung der öffentlichen Straßen der Antragsgegnerin dient in ihrem Hauptzweck nicht der Ortsveränderung. Dies gilt in gesteigertem Maße, wenn das Tarotkartenlegen unter Verwendung eines kleinen Klapp-tischs und zweier Klappstühle ausgeübt werden soll. Daher ist sie in beiden Fällen als Sondernutzung zu qualifizieren, sofern durch die konkrete Widmung der betreffenden Straße die beabsichtigte Nutzung nicht ausdrücklich dem Ge-meingebrauch zugeschlagen wurde oder aber unter dem Kriterium der Verkehrsüblichkeit ein entsprechender Orts-gebrauch besteht (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.4.1992 - 14 S 3212/89 - BWGZ 1995, 68, juris Rn. 17). Eine entsprechende Widmung der öffentlichen Straßen der Antragsgegnerin, wonach Tarotkartenlegen dem Gemein-gebrauch zugeschlagen würde, ist jedoch nicht ersichtlich. Auch ist nicht erkennbar, dass Tarotkartenlegen auf öffentlichen Straßen der Antragsgegnerin ortsüblich ist. Damit handelt es sich bei der vom Antragsteller begehrten Nutzung um eine grundsätzlich nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StrG erlaubnispflichtige Sondernutzung. Die grundsätzliche Erlaubnispflicht ist selbst dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn es sich beim Tarotkartenlegen um (Straßen-)-Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handeln würde. Eine Präventivsteuerung straßenkünstlerischer Aktivitäten durch ein Erlaubnisverfahren, in dem im Einzelfall widerstreitende Nutzungen ausgeglichen werden, stellt grund-sätzlich keine unverhältnismäßige Beschränkung der Kunstfreiheit dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.11.1989 - 7 C 81.88 - BVerwGE 845, 71, juris Rn. 11 ff.).

(VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 22.5.2019, 5 S 2592/18)

Bundesverfassungsgericht

„Mietpreisbremse“ ist nicht verfassungswidrig

Die mit dem Mietrechtsnovellierungsgesetz geschaffenen Vorschriften zur Regulierung der Miethöhe bei Mietbeginn im nicht preisgebundenen Wohnraum (sogenannte „Mietpreisbremse“) sind nicht verfassungswidrig. Sie verstoßen nicht gegen die Garantie des Eigentums, die Vertragsfreiheit oder den allgemeinen Gleichheitssatz. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit am 20. August 2019 veröffentlichtem Beschluss entschieden.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 18. Juli 2019 - 1 BvL 1/18, 1 BvR 1595/18, 1 BvL 4/18 - Pressemitteilung Nr. 56/2019 vom 20. August 2019)

Bundesverfassungsgericht

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung als „faktischer Leiter“ einer nicht angemeldeten Versammlung

Mit einem am 15. August 2019 veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats die Verfassungsbeschwerde eines Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen, der aufgrund der tatsäch-lichen Ausübung der Leitungsfunktion bei einer nicht angemeldeten öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel nach § 26 Nr. 2 VersammlG schuldig gesprochen worden war. Zur Begründung hat sie insbesondere angeführt, dass die Gesetzesauslegung der Fachgerichte, der zufolge auch der „faktische Leiter“ einer nicht angemeldeten Versamm-lung als tauglicher Täter nach § 26 Nr. 2 VersammlG angesehen werden kann, weder gegen das strafrechtliche Analogieverbot noch gegen das Schuldprinzip verstößt. Die Entscheidungen im konkreten Fall sind auch mit der Versammlungsfreiheit vereinbar, da der Gefahr einer – vom Gesetzgeber nicht gewollten – Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Versammlung durch eine restriktive Auslegung der Rechtsfigur des „faktischen Versammlungsleiters“ Rechnung getragen worden ist.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Juli 2019 - 1 BvR 1257/19 - Pressemitteilung Nr. 55/2019 vom 15. August 2019)

Bundesverfassungsgericht

Verletzung der Meinungsfreiheit durch fälschliche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik

Grundsätzlich ist über die Frage, ob eine Äußerung als Beleidigung zu bestrafen ist oder von der Meinungsfreiheit geschützt ist, im Wege einer Abwägung zu entscheiden. Bei Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik tritt demgegenüber die Meinungsfreiheit von vornherein zurück; es bedarf hier ausnahmsweise keiner Abwägung im Einzelfall. Deshalb sind hinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden. Maßgeblich ist hierfür nicht einfach eine wertende Gesamtbetrachtung, sondern die Frage, ob die Äußerung einen Sachbezug hat. Nur wenn eine Äußerung der Sache nach allein auf die Diffamierung einer Person als solche, etwa im Rahmen einer Privatfehde zielt, kommt eine Beurteilung als Schmähung in Betracht; insoweit sind Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln. Wenn die Äußerung hingegen – wie in der Regel – im Kontext einer Sachauseinandersetzung steht, bedarf es einer Abwägung, die die Bedeutung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls gewichtet.

Vor diesem Hintergrund hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbe-schwerde eines wegen Beleidigung Verurteilten stattgegeben, der die Verhandlungsführung einer Amtsrichterin mit nationalsozialistischen Sondergerichten und Hexenprozessen verglichen hatte. Dies war von den Fachgerichten unzutreffend als Schmähkritik eingeordnet worden, obwohl es sich nicht um eine reine Herabsetzung der Betroffenen handelte, sondern ein sachlicher Bezug zu dem vom Beschwerdeführer geführten Zivilprozess bestand.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 14. Juni 2019 - 1 BvR 2433/17 - Pressemitteilung Nr. 49/2019 vom 23. Juli 2019)

Europäischer Gerichtshof

Honorarordnung für Architekten (HOAI) verstößt gegen EU-Recht

Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt verstoßen, dass sie verbindliche Honorare (Mindest- und Höchstsätze) für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat. Dies hat der Europäischer Gerichtshof in Luxemburg mit Urteil vom 4. Juli 2019 festgestellt.

(EuGH , Urteil vom 04.07.2019 - C-377/17)

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes

Geschwindigkeitsmessung mit TraffiStar S 350 ist nicht verwertbar

Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes ist eine Geschwindigkeitsmessung mit einem Gerät des Typs TraffiStar S 350 der Firma Jenoptik unverwertbar, weil die Geräte nicht alle Messdaten speichern und daher eine zuverlässige nachträgliche Überprüfung nicht mehr möglich ist.

Der Verfassungsgerichtshof bezweifelt nicht, dass die Geschwindigkeitsmessung durch das Gerät Traffistar S 350, bei dem es sich um ein durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) zugelassenes Messgerät handelt,  ein standardisiertes Messverfahren darstellt.  Die mit Traffistar S 350 gewonnenen Messergebnisse können daher durchaus zur Grundlage einer Verurteilung gemacht werden. Wenn sich ein Betroffener jedoch - wie vorliegend - gegen das Messergebnis wendet, muss er nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs die Möglichkeit haben, die Validität der standardisierten Messung zu überprüfen. Das ist auch dann der Fall, wenn er zunächst keinen auf der Hand liegenden Einwand – etwa sich aus dem Lichtbild offenkundig ergebende Unklarheiten – vortragen kann. Denn zu einer wirksamen Verteidigung gehört auch, nachforschen zu können, ob es bislang nicht bekannte Zweifel an der Tragfähigkeit des Vorwurfs gibt. Dies ist dem Beschwerdeführer aber mangels Speicherung der Rohmessdaten verwehrt. Da die Ergebnisse des Messverfahrens mit dem Gerät Traffistar S 350 wegen der verfassungswidrigen Beschränkung des Rechts auf wirksame Verteidigung unverwertbar sind, hat der Verfassungsgerichtshof die zuvor gegen einen Kraftfahrer ergangene Entscheidungen aufgehoben.
Der Verfassungsgerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die Entscheidung nur die saarländischen Gerichte im konkreten Fall bindet, er aber in gleich gelagerten Fällen abweichende Entscheidungen saarländischer Gerichte korrigieren wird.

(Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Urteil vom 5. Juli 2019 – Lv  7/17 - Pressemitteilung vom 9. Juli 2019)

​​​​​​​​​​​​

OLG Brandenburg

Kein Anspruch auf Auszahlung des Kapitalkontos beim Ausscheiden aus einer GbR

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs führt die Auflösung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts ebenso wie das Ausscheiden eines Gesellschafters grundsätzlich dazu, dass ein Gesellschafter die ihm gegen die Gesellschaft und die Mitgesellschafter zustehenden Ansprüche nicht mehr selbständig im Wege der Leistungsklage durchsetzen kann (Durchsetzungssperre). Diese sind vielmehr als unselbständige Rechnungsposten in die Schlussrechnung aufzunehmen, deren Saldo ergibt, wer von wem noch etwas zu fordern hat (vgl. BGH, Urteile vom 7. Mai 2005 - II ZR 194/03; vom 3. April 2006 - II ZR 40/05; vom 7. April 2008 - II ZR 181/04 und vom 22. Mai 2012 - II ZR 1/11, zit. jeweils nach juris; Palandt-Sprau BGB 78. Aufl. § 730 Rn. 1 ff. m.w.N)

 

Der Abfindungsanspruch des ausgeschiedenen Gesellschafters richtet sich grundsätzlich auf das sich aus einer Auseinandersetzungsrechnung ergebende Auseinandersetzungsguthaben. Das Auseinandersetzungsguthaben berechnet sich auf der Basis des anteiligen Unternehmenswertes. Es sind aber, sofern vorhanden, auch sonstige, nicht unternehmensbezogene gegenseitige Ansprüche aus dem Gesellschaftsverhältnis als Rechnungsposten einzustellen. Treffen die Gesellschafter - wie hier in § 17 des Gesellschaftsvertrages - bestimmte Regelungen darüber, wie der Wert des Geschäftsanteils im Hinblick auf die Berechnung des Abfindungsanspruchs ermittelt werden soll, kann ohne weitere Anhaltspunkte nicht angenommen werden, damit solle auf die Berücksichtigung sonstiger an sich in eine Abfindungsrechnung einzustellender gegenseitiger Ansprüche aus dem Gesellschaftsverhältnis verzichtet werden.

(Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 12. Juni 2019 - 7 U 258/14)

 

​​​​​​​

Bundesverwaltungsgericht

Kommunalaufsicht darf Gemeinde zum Erlass einer Straßenausbaubeitragssatzung anweisen

Kommt eine Gemeinde einer landesrechtlichen Verpflichtung zum Erlass einer Straßenausbaubeitragssatzung nicht nach, so darf die Kommunalaufsichtsbehörde sie hierzu anweisen und erforderlichenfalls eine gesetzeskonforme Satzung im Wege der Ersatzvornahme erlassen.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. Mai 2019 - BVerwG 10 C 1.18 - Pressemitteilung Nr. 43/2019 vom 29.05.2019)

 

Bundesverwaltungsgericht

Keine Pflicht zur förmlichen Anhörung kreisangehöriger Gemeinden vor Festlegung des Kreisumlagesatzes

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat am 29. Mai 2019 entschieden, dass kreisangehörige Gemeinden vor Erlass einer Satzungsbestimmung über die Höhe des Kreisumlagesatzes nicht förmlich angehört werden müssen.

 

Im Februar 2013 beschloss der Landkreis Nordwestmecklenburg seine Haushaltssatzung für das Jahr 2013 und legte darin nach § 23 Abs. 1 des Finanzausgleichsgesetzes Mecklenburg-Vorpommern den Kreisumlagesatz auf 43,67 % fest, ohne die davon betroffenen Gemeinden vorher förmlich anzuhören. Im September 2013 setzte die beklagte Landrätin gegenüber der klagenden Gemeinde die Kreisumlage für das Jahr 2013 fest. Das Verwaltungsgericht hat den Kreisumlagebescheid aufgehoben. Während des Berufungsverfahrens hat der Landkreis nach förmlicher Anhö-rung seiner kreisangehörigen Gemeinden den Kreisumlagesatz für das Haushaltsjahr 2013 erneut auf 43,67 % fest-gelegt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Die Änderungssatzung sei nichtig, weil sie eine Nachtragshaushaltssatzung darstelle und keiner der in der Kommunalverfassung für Mecklenburg-Vorpommern ab-schließend aufgezählten Fälle vorliege, in denen eine solche ergehen dürfe. Die ursprüngliche Satzungsbestimmung über die Festlegung des Kreisumlagesatzes sei ebenfalls nichtig, weil die kreisangehörigen Gemeinden vor ihrem Erlass nicht förmlich angehört worden seien.

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Das Oberverwaltungsgericht geht zwar im Ansatz zutreffend davon aus, dass das Selbstverwal-tungsrecht der klagenden Gemeinde nicht nur verletzt wird, wenn die Erhebung der Kreisumlage dazu führt, dass deren finanzielle Mindestausstattung unterschritten wird, sondern auch dann, wenn der Kreis bei der Erhebung der Kreisumlage seine eigenen finanziellen Belange gegenüber den finanziellen Belangen der kreisangehörigen Gemein-den einseitig und rücksichtslos bevorzugt. Bei Festsetzung der Kreisumlage muss der Kreis daher nicht nur seinen eigenen Finanzbedarf, sondern auch denjenigen der von der Kreisumlage betroffenen Gemeinden berücksichtigen. Jedoch lässt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen, auf welche Weise dies zu erfolgen hat. Es obliegt daher vor-rangig dem Landesgesetzgeber festzulegen, ob den Kreis bei Festlegung des Kreisumlagesatzes Verfahrenspflichten treffen und ob solchen Verfahrenspflichten Verfahrensrechte der betroffenen Gemeinden korrespondieren. Soweit derartige Regelungen fehlen, sind die Kreise in der Pflicht, ihr Rechtsetzungsverfahren derart auszugestalten, dass die genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen gewahrt werden.

 

Die Sache war an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen, weil es - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent - nicht geprüft hat, ob die streitige Kreisumlage dazu führt, dass die finanzielle Mindestausstattung der klagenden Gemeinde unterschritten wird.

(Bundesverwalrungsgericht, Urteil vom 29. Mai 2019 - BVerwG 10 C 6.18 - Pressemitteilung Nr. 44/2019 vom 29.05.2019)

​​​

Bundesverwaltungsgericht

Zulässigkeit einer Klage auf Widerruf und Richtigstellung von Äußerungen in einem Bericht des Bundesrechnungshofs

Die in Art. 114 Abs. 2 GG begründete Sonderstellung des Bundesrechnungshofs schließt eine gerichtliche Überprüfung seiner Berichtstätigkeit nicht aus.

Der Kläger kann seine in der Berufungsinstanz noch anhängigen Anträge, den Bundesrechnungshof zum Widerruf und zur Richtigstellung einzelner Äußerungen im Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages nach § 88 Abs. 2 BHO vom 15. Mai 2007 zu verpflichten, gerichtlich geltend machen. Für sein Begehren ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet (§ 40 Abs. 1 VwGO).

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet dem in seinen Rechten betroffenen Bürger ein Grundrecht auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle der Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2005 - 2 BvR 2236/04  - BVerfGE 113, 273 <310>). Es dient der effektiven Durchsetzung der in Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundrechts- und Gesetzesbindung der Verwaltung. Die Grundrechte gelten gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung, sondern erfassen jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen, weil es in Wahrnehmung ihres dem Gemeinwohl verpflichteten Auftrags erfolgt (vgl. BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06 - BVerfGE 128, 226 <244>). Auch die Prüfungs- und Beratungstätigkeit des Bundesrechnungshofs stellt sich daher ungeachtet der mangelnden Regelungs- oder Gestaltungswirkung gegenüber dem Bürger als Ausübung "öffentlicher Gewalt" dar. Der Bundesrech-nungshof als oberste Bundesbehörde (§ 1 Abs. 1 BRHG) nimmt im Rahmen des verfassungsrechtlich in Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG erteilten Mandats ebenso wie bei Erfüllung der auf der Grundlage des Art. 114 Abs. 2 Satz 4 GG einfachgesetzlich in § 88 Abs. 2 Satz 1 BHO zugewiesenen Beratungstätigkeit staatliche Aufgaben wahr. Die in Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG garantierte richterliche Unabhängigkeit seiner Mitglieder sichert dem Bundesrechnungshof die zur Aufgabenerfüllung als Organ der externen Finanzkontrolle erforderliche Eigenständigkeit, macht diese Tätigkeit aber nicht zur Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG (BVerwG, Urteil vom 15. November 2012 - 7 C 1.12 - Buchholz 404 IFG Nr. 10 Rn. 31). Ebenso wenig gehört der Bundesrechnungshof infolge seines Verfassungsauftrags, den Bundestag bei der parlamentarischen Budgetkontrolle zu unterstützen, als dessen bloßer Diener der gesetzge-benden Gewalt an (BVerwG a.a.O.; OVG Münster, Urteil vom 9. Mai 1978 - XII A 687/76 - NJW 1980, 137 <138>; so auch Mähring, in: Heuer/Engels/Eibelshäuser/Scheller, Kommentar zum Haushaltsrecht, Stand: August 2018, Art. 114 GG Rn. 12).

Eine Exemtion von der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährten Rechtsschutzgewährung durch Gerichte lässt sich nicht aus der in Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG gleichfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Stellung des Bundesrechnungs-hofs als Organ der externen Finanzkontrolle und der ihm und seinen Mitgliedern zur effektiven Aufgabenerfüllung gewährten Garantien ableiten. Art. 114 Abs. 2 GG enthält keinen Ausschluss der gerichtlichen Überprüfbarkeit, wie ihn die Verfassung etwa in Art. 44 Abs. 4 Satz 1 GG für Untersuchungsausschüsse (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: August 2018, Art. 44 Rn. 234) oder Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG als Ausnahmebestimmungen zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ausdrücklich vorsieht.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. Februar 2019 - 6 C 1.18)

​​

Bundesverwaltungsgericht

Keine Verbandsklagebefugnis bei Verbraucherberatung im wirtschaftlichen Interesse Dritter

Ein Verein kann nur dann in die Liste der qualifizierten Einrichtungen nach § 4 Abs. 1 und Abs. 2 Unterlassungskla-gengesetz (UKlaG) eingetragen werden, wenn er Verbraucheraufklärung und -beratung im ausschließlichen Interesse der Verbraucher leistet. Das ist nicht der Fall, wenn die Aufklärung und Beratung dem wirtschaftlichen Interesse des Vereins oder Dritter dient.

Die Eintragung in die Liste der qualifizierten Einrichtungen setzt nach § 4 Abs. 2 UKlaG nicht nur voraus, dass es zu den satzungsmäßigen Aufgaben des Vereins gehört, Verbraucherinteressen durch nicht gewerbsmäßige Aufklärung und Beratung wahrzunehmen. Zusätzlich muss aufgrund der bisherigen Vereinstätigkeit gesichert erscheinen, dass die satzungsmäßigen Aufgaben auch künftig dauerhaft wirksam und sachgerecht erfüllt werden. Dazu muss die Aufklärung und Beratung bereits in der Vergangenheit tatsächlich im ausschließlichen Interesse der Verbraucher und nicht im wirtschaftlichen Interesse des Vereins oder Dritter erbracht worden sein.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 03. April 2019 - BVerwG 8 C 4.18 -, Pressemitteilung Nr. 27/2019 vom 03.04.2019)

​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​

Bundesverfassungsgericht

Vollständiger Ausschluss der Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien verfassungswidrig

Der vollständige Ausschluss der Stiefkindadoption allein in nichtehelichen Familien verstößt gegen Artikel 3 Abs. 1 GG. Es ist mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot nicht vereinbar, dass der Stiefelternteil in nichtehelichen Stiefkindfamilien die Kinder des anderen Elternteils nicht adoptieren kann, ohne dass die Verwandtschaft der Kinder zu diesem erlischt, wohingegen in einer ehelichen Familie ein solches Kind gemeinschaftliches Kind beider Eltern werden kann. Dies hat der Erste Senat mit am 2. Mai 2019 veröffentlichtem Beschluss entschieden und die zugrundeliegenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches für verfassungswidrig erklärt sowie dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31. März 2020 eine Neuregelung zu treffen. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass gegen die Stiefkindadoption vorgebrachte allgemeine Bedenken die Benachteiligung von Kindern in nichtehelichen Familien nicht rechtfertigen und sich der Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption auf andere Weise als den vollständigen Adoptionsausschluss hinreichend wirksam sichern lässt.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. März 2019 - 1 BvR 673/17 -, Pressemitteilung Nr. 33/2019 vom 2. Mai 2019)

Bundesverwaltungsgericht

Kein presserechtlicher Auskunftsanspruch für Unternehmen mit vorwiegend außerpublizistischen Unternehmenszwecken

Ein Unternehmen, das u.a. ein Printmedium herausgibt und - teilweise journalistisch-redaktionell gestaltete - Internet-portale betreibt, kann sich nicht auf Auskunftsansprüche nach dem Landespressegesetz und dem Rundfunkstaatsver-trag berufen, wenn sein Unternehmensgegenstand von außerpublizistischen Zwecken geprägt wird.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21. März 2019 - BVerwG 7 C 26.17 - Pressemitteilung Nr. 21/2019 vom 21.03.2019)

Bundesverwaltungsgericht

Baugenehmigung für eine Gaststätte im allgemeinen Wohngebiet

Einer Schank- und Speisewirtschaft, die im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Versorgung eines allgemeinen Wohngebiets dient, kann nicht entgegengehalten werden, sie sei wegen der von ihrem Betrieb ausgehenden Störungen gebietsunverträglich.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. März 2019 - BVerwG 4 C 5.18 -)

Bundesverwaltungsgericht

Kein Anspruch auf Informationszugang gegen Generalbundesanwalt in einem Ermittlungsverfahren

Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof muss keinen Informationszugang zu Unterlagen in einem straf-rechtlichen Ermittlungsverfahren gewähren. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.

Der Anwendungsbereich des Informationsfreiheitsgesetzes ist nicht eröffnet, weil er sich allein auf die materielle Ver-waltungstätigkeit der Behörden und der sonstigen Stellen des Bundes bezieht. Demgegenüber gehören die begehrten Informationen zum Tätigkeitsbereich des Generalbundesanwalts als Organ der Rechtspflege. Der Kläger kann sich auch nicht auf einen verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruch und auf Art. 10 EMRK berufen.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28. Februar 2019 - BVerwG 7 C 23.17 -, Pressemitteilung Nr. 18/2019 vom 28.02.2019)

 

​​

Bundesverwaltungsgericht

Prüfberichte des Bundesrechnungshofs unterliegen verwaltungsgerichtlicher Kontrolle

Betroffene können Ansprüche auf Widerruf und Richtigstellung von Äußerungen in einem Bericht des Bundesrech-nungshofs vor den Verwaltungsgerichten geltend machen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger war bis ins Jahr 2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Bonn (KAH). Er wendet sich gegen die Feststellung von Mängeln in der Ge-schäftsführung der KAH im Bericht des Bundesrechnungshofs vom 15. Mai 2007 und begehrt den Widerruf und die Richtigstellung einzelner Äußerungen.

Die Beratungstätigkeit des Bundesrechnungshofs für den Bundestag ist einer gerichtlichen Überprüfung nicht ent-zogen. Ein in dem Bericht identifizierbarer Beschäftigter kann geltend machen, durch die sein Handeln betreffenden Aussagen in seinem Persönlichkeitsrecht betroffen zu sein. Die mögliche Rechtsbetroffenheit wird bereits mit der Weiterleitung des Berichts an den Bundestag und nicht erst durch eine spätere Presseberichterstattung oder eine Veröffentlichung durch den Bundesrechnungshof ausgelöst. Für in den Akten dokumentierte ehrschutzrelevante Äußerungen kommt ein Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses durch bloßen Zeitablauf nicht in Betracht.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. Februar 2019 - BVerwG 6 C 1.18 -, Pressemitteilung Nr. 14/2019 vom 27.02.2019)

Bundesverwaltungsgericht

Privilegierung im Bauplanungsrecht nur für öffentlich verantwortete Unterbringung von Geflüchteten

Die planungsrechtliche Begünstigung nach § 246 Abs. 9 BauGB für Vorhaben, die der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienen, kommt nur Bauvorhaben zugute, mit denen die öffentliche Hand ihrer Unterbringungs-verantwortung genügen will. § 246 Abs. 9 BauGB begünstigt Vorhaben, die der „Unterbringung“ von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienen. Unterbringung ist nur die öffentlich verantwortete Unterbringung, sei es in Bauten der öffentlichen Hand, sei es in privaten Unterkünften. Dies folgt aus dem fachsprachlichen Wortlaut und den Gesetzgebungsmaterialien. Es muss daher durch Abstimmung mit der öffentlichen Hand oder in sonstiger Weise hinreichend gesichert sein, dass ein Bau für die öffentlich verantwortete Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden genutzt werden wird. Anderenfalls kommt § 246 Abs. 9 BauGB einem Vorhaben nicht zugute.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21. Februar 2019 - BVerwG 4 C 9.18 - Presseerklärung Nr. 12/2019 vom 21.02.2019)

​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​

Bundesverfassungsgericht

Voraussetzung für Annahme einer die Meinungsfreiheit ausschließenden Formalbeleidigung oder Schmähkritik

Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, das grundsätzlich sowohl Werturteile als auch Tatsachenbehauptungen schützt, ist nicht vorbehaltlos gewährt. Es findet seine Schranke gemäß Art. 5 Abs.  2 GG in den allgemeinen Gesetzen, zu denen die hier von den Gerichten angewendeten Vorschriften der § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG gehören. Die gerichtliche Untersagung einer durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Meinungsäußerung erfordert grundsätzlich eine Abwägung mit dem durch die Meinungsäußerung betroffenen allgemeinen Persönlichkeitsrecht (vgl. BVerfGE 99, 185 <196 f.>; 114, 339 <348>). Zu beachten ist hierbei insbesondere, dass Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen schützt, sondern gerade Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen darf; insoweit liegt die Grenze zulässiger Meinungsäußerungen nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>). Einer Abwägung bedarf es allerdings dann nicht, wenn es sich bei der Meinungsäußerung um eine Formalbeleidigung oder sogenannte Schmähkritik handelt. In diesen Fällen tritt die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zurück (vgl. BVerfGE 82, 43 <51>; 90, 241 <248>; 93, 266 <294>). Da die jeweiligen Meinungsäußerungen damit faktisch aus dem Gewährleistungsbereich der Meinungsfreiheit ausge-schlossen werden, sind an die Annahme des Vorliegens einer Formalbeleidigung oder einer Schmähkritik jedoch strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfGE 93, 266 <294>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2016 - 1 BvR 2646/15 -, www.bverfg.de, Rn. 13). Von einer Schmähung kann nicht ausgegangen werden, wenn die Äußerung in dem Kontext einer Sachauseinandersetzung steht. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aus-sage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persön-lichkeitsrecht erfordern damit regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung (vgl. BVerfGE 93, 266 <303>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. August 2005 - 1 BvR 1917/04 -, juris, Rn. 22). Hiervon kann allenfalls ausnahmsweise abgesehen werden, wenn es sich um eine Äußerung handelt, deren diffamierender Gehalt so erheblich ist, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheint und daher unabhängig von ihrem konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden muss, wie dies möglicherweise bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter - etwa aus der Fäkalsprache - der Fall sein kann (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. Dezember 2008 - 1 BvR 1318/07 -, juris, Rn. 16). Bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage liegt Schmähkritik nur ausnahmsweise vor; sie bleibt grundsätzlich auf die Privatfehde beschränkt (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <294>). Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidigung oder Schmähung mit der Folge, dass eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände nicht vorgenommen wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (vgl. BVerfGE 82, 272 <281>; 93, 266 <294>).

(Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 19. Februar 2019 - 1 BvR 1954/17)

​​​​​​​​​​​​​​​​​

Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pflaz

Voraussetzungen für den Ausschluß aus einer Landtagsfraktion

Leitsätze zum Urteil:

1. Das Statusrecht des Abgeordneten und das daraus folgende Fraktionsbildungs-recht sindGrund und Grenze der Entscheidung einerFraktion über den Ausschluss eines ihrer Mitglieder. Der Fraktionsausschluss setzt daher ein rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügendes Verfahren sowie einen willkürfreien Entschluss der Fraktionsversammlung über das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ für den Fraktionsausschluss voraus.

 

2. Ein „wichtiger Grund“ für einen Fraktionsausschluss kann insbesondere dannangenommen werden, wenn das für eine sinnvolle Meinungsbildung und Arbeit der Fraktion erforderliche Mindestmaß an prinzipieller politischer Übereinstimmung fehlt oder wenn das Fraktionsmitglied das Vertrauensverhältnis so nachhaltig gestört hat, dass den anderen Fraktionsmitgliedern die weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden kann,oder wenn ein Fraktionsmitglied durch sein Verhalten das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig schädigt und die Außen-wirkung der Fraktion und deren Wirkungsmöglichkeiten damit beeinträchtigt.

 

3. Während die Einhaltung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Verfahrensanfor-derungen gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar ist, hat sich die Prüfung eines „wichtigen Grundes“ auf eine Willkürkontrolle zu beschränken. Den Fraktionen steht insoweit ein weiter Entscheidungsspielraum zu. Als letztlich politische Entscheidung ist der Fraktionsausschluss verfassungsgerichtlich nicht daraufhin zu überprüfen, ob er vertretbar ist, sondern im Rahmen der Willkürkontrolle allein darauf, ob das Statusrecht des betroffenen Abgeordneten in grundlegender Weise evident verkannt wurde.

 

4. Eine willkürfreie Entscheidung einerFraktion setzt in materieller Hinsicht grundsätz-lich voraus, dass die Fraktionsmitglieder ihr die zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu Grunde gelegt haben und von einem möglichst vollstän-dig aufgeklärten Sachverhalt ausgehen konnten. Dabei wirkt sich der der Fraktion zukommende Entscheidungsspielraum nicht erst auf die Bejahung oder Verneinung eines „wichtigen Grundes“ als solches aus, sondern auch bereits auf diedieser Ent-scheidung vorgelagerteTatsachenebene. Auch insofern unterfällt es der Einschät-zung der Fraktionsmitglieder, aufgrund welcher tatsächlicher Umstände ein Anknüpfungsverhalten (bereits) mit einer ausreichenden Gewissheit angenommen werden kann.

(Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29.01.2019 – VGH O 18/18–.)

Bundesfinanzhof

Kein allgemeinpolitisches Mandat für gemeinnützige Körperschaften

Die Verfolgung politischer Zwecke ist im Steuerrecht nicht gemeinnützig. Gemeinnützige Körperschaften haben kein allgemeinpolitisches Mandat, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 10. Januar 2019 V R 60/17 zu Lasten des attac-Trägervereins entschieden hat.Gemeinnützig ist im Steuerrecht die Verfolgung der in § 52 der Abgabenordnung (AO) ausdrücklich genannten Zwecke. Hierzu gehört nicht die Verfolgung politischer Zwecke. Allerdings dürfen sich Körperschaften nach ständiger BFH-Rechtsprechung zur Förderung ihrer nach § 52 AO steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke in gewissen Grenzen auch betätigen, um z.B. zur Förderung des Umweltschutzes Einfluss auf die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung zu nehmen.

Mit seinem Urteil verwarf der BFH die Entscheidung der Vorinstanz. Das Hessische Finanzgericht (FG) war davon ausgegangen, dass die nach § 52 AO steuerbegünstigte Förderung der Volksbildung eine Betätigung in beliebigen Politikbereichen zur Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen ermögliche. Demgegenüber ist nach dem Urteil des BFH für die zur Volksbildung gehörende politische Bildung wesentlich, politische Wahrnehmungsfähigkeit und politisches Verantwortungsbewusstsein zu fördern. Dabei können auch Lösungsvorschläge für Problemfelder der Tagespolitik erarbeitet werden. Politische Bildungsarbeit setzt aber ein Handeln in geistiger Offenheit voraus. Daher ist eine Tätigkeit, die darauf abzielt, die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffas-sungen zu beeinflussen, nicht als politische Bildungsarbeit gemeinnützig.

(Bundesfinanzhof, Urteil vom 10.1.2019   V R 60/17; Pressemitteilung Nr. 9 vom 26. Februar 2019)

Bundesverwaltungsgericht

Anspruch auf Ausbildungsförderung bei Quereinstieg in einen Diplomstudiengang nach Bachelorabschluss

Auszubildende, die nach dem Erwerb eines Bachelorgrades infolge der vollständigen Anrechnung ihrer in dem Bachelorstudiengang erbrachten Leistungen von einer Hochschule zu einem höheren Fachsemester eines Diplomstudiengangs in derselben Fachrichtung zugelassen werden, haben für die Dauer der Regelstudienzeit des Diplomstudiengangs einen Anspruch auf Ausbildungsförderung. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig m 29. November 2018 mit zwei Urteilen entschieden. Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch zwar nicht in analoger Anwendung des § 7 Abs. 1a BAföG zu, weil keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Gesetzgeber den Grundanspruch auf Förderung einer beruflichen Erstausbildung auf den hier in Rede stehenden Fall des so genannten Quereinstiegs in ein Diplomstudium nach Erwerb eines Bachelorgrades erstrecken wollte. Das Diplomstudium der Kläger ist aber aus Gründen der Gleichbehandlung und damit wegen besonderer Einzelfallumstän-de (§ 7 Abs. 2 Satz 2 BAföG) als weitere Ausbildung förderungsfähig. Durch die Vorenthaltung von Leistungen der Ausbildungsförderung an Auszubildende wie die Kläger würden diese ansonsten vor allem gegenüber Auszubildenden benachteiligt, deren Zweitausbildung gefördert wird, wenn sie nach einem berufsqualifizierenden Abschluss eine in sich selbstständige Ausbildung aufnehmen, die in derselben Richtung fachlich weiterführt (§ 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG). Hierfür fehlt ein hinreichender sachlicher Rechtfertigungsgrund. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich hier der Bachelorstudiengang wegen der Anrechnung der in ihm erbrachten Leistungen in der Sache als Teil des Diplomstudiums darstellt und die Kläger nicht länger gefördert werden, als wenn sie gleich diesen Studiengang ergriffen hätten.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. November 2018 - C 10.17 -; Pressemitteilung Nr. 85/2018 vom 29.11.2018)

Oberverwaltungsgericht Münster

Keine Zweitwohnungssteuer bei Erwerbszweitwohnung eines nicht dauernd getrennt lebenden Verheirateten

Für die verfassungsrechtlich gebotene Befreiung einer Erwerbszweitwohnung, die durch einen Verheirateten überwiegend genutzt wird, von der Zweitwohnungssteuer kommt es nicht darauf an, ob eine solche Nutzung der Wohnung als „vernünftig“ anzusehen ist oder ob und ggf. welche weiteren Motive der Wohnungsnutzung noch zugrunde liegen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - so das Oberverwaltungsgericht - verstößt die Erhebung auf die Innehabung einer aus beruflichen Gründen gehaltenen Wohnung eines nicht dauernd getrennt lebenden Verheirateten, dessen eheliche Wohnung sich in einer anderen Gemeinde befindet, gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Denn die (übliche) Bindung des satzungsrechtlichen Zweitwohnungsbegriffs an das Melderecht führt dazu, dass verheiratete Personen anders als Unverheiratete zur Zweitwohnungssteuer für die von ihnen vorwiegend benutzte Wohnung herangezogen werden, soweit die Familie im Übrigen eine andere Wohnung vorwiegend nutzt.

(Oberverwaltungsgericht Münster, Bechluß vom 8. November 2018 - 14 A 650/17)

Bundesgerichtshof

Erstattungsfähigkeit fiktiver Reisekosten eines außerhalb des Gerichtsbezirks ansässigen Rechtsanwalts

Eine Partei, die einen außerhalb des Gerichtsbezirks ansässigen Rechtsanwalt beauftragt, ohne dass die in § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 ZPO vorausgesetzte Notwendigkeit bestanden hat, kann vom unterlegenen Prozessgegner - bis zur Grenze der tatsächlich angefallenen Kosten - diejenigen fiktiven Reisekosten erstattet verlangen, die angefallen wären, wenn sie einen am entferntesten Ort des Gerichtsbezirks ansässigen Rechtsanwalt beauftragt hätte.

(Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04. Dezember 2018 – VIII ZB 37/18 –)

Voraussetzung für den Ausschluß aus einem Verein

Die einer Vereinsstrafe zugrunde gelegten Tatsachen müssen aufgrund einer objektiven und rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Tatsachenermittlung durch das zuständige Vereinsorgan zutreffend festgestellt werden. Anderenfalls ist der entsprechende Beschluß unwirksam.

(Landgericht Detmold, Urteil vom 31.10.2018 - 03 S 69/18)

Beamtenrecht

Rechtsnatur der Zuweisung eines Beamten zu einem Fortbildungslehrgang

Die Zuweisung eines Beamten zu einem Fortbildungslehrgang berührt weder seine statusrechtliche Stellung noch sein abstrakt-funktionales Amt und stellt daher keinen Verwaltungsakt dar. Sie ist als im Organisationsermessen des Dienstherrn liegende Maßnahme verwaltungsgerichtlich nur daraufhin zu überprüfen, ob ein Ermessensmissbrauch vorliegt. Die Versagung der Teilnahme ist insbesondere dann ermessensfehlerhaft, wenn sie auf sachwidrigen Gründen oder einer unzureichenden Abwägung der betroffenen Belange beruht. Eine Erweiterung des derart eingeschränkten Überprüfungsrahmens hat nur dann zu erfolgen, wenn die Teilnahme an einer solchen Fortbildungsmaßnahme zwingende Voraussetzung für eine spätere Beförderung des Beamten ist (Fall der sog. Vorwirkung)......Für den Fall einer beamtenrechtlichen Umsetzung ist es in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass diese weder die statusrechtliche Stellung des Beamten noch sein abstrakt-funktionales Amt berührt und so wegen der insofern vorrangigen öffentlichen Interessen an der reibungslosen Erfüllung der dem Amtswalter übertragenen Aufgaben nur daraufhin überprüft wird, ob ein Ermessensmissbrauch vorliegt. Eine Umsetzung kann danach grundsätzlich auf jeden sachlichen Grund gestützt werden. Die Ausübung des dem Dienstherrn zukommenden, einer bestmöglichen Aufgabenerfüllung verpflichteten und orientierten Organisationsermessens wird insoweit lediglich begrenzt durch das Recht des Beamten auf amtsangemessene Beschäftigung. Daneben sind die Belange des Betroffenen nur nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Die Umsetzung ist danach insbesondere ermessensfehlerhaft, wenn sie auf sachwidrigen Gründen oder einer unzureichenden Abwägung der betroffenen Belange beruht (vgl. zum Vorstehenden BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2008 – 2 BvR 754/07 –, NVwZ 2008, 547; BVerwG, Urteil vom 22. Mai 1980 – 2 C 30.78 –, BVerwGE 60, 144 [151 f.]; sowie Beschluss vom 21. Juni 2012 – 2 B 23.12 –, NVwZ 2012, 1481; OVG RP, Beschluss vom 29. Juni 2011 – 2 B 10579/11.OVG –, AS 40, 159 [160]).

Bei der nur vorübergehenden Zuweisung eines Beamten zu einem Fortbildungslehrgang verhält es sich nicht anders. Hier sind die statusrechtlichen Rechte des Betroffenen sogar noch in einem erheblich geringeren Maße berührt. Da er weder aus seiner Stammdienststelle dauerhaft herausgelöst noch über einen erheblichen Zeitraum mit anderen Dienstaufgaben betraut wird, ist weder sein statusrechtliches noch sein abstrakt-funktionales Amt betroffen. Es bleibt sogar sein konkret-funktionales Amt (der wahrgenommene Dienstposten) bis auf die Zeit, in welcher der Beamte an der jeweiligen Fortbildungsmaßnahme teilnimmt, unberührt. Aus diesen Gründen ist eine solche Maßnahme nicht nur nicht als Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 VwVfG zu qualifizieren, sondern darüber hinaus wie bei allgemeinen Umsetzungsmaßnahmen lediglich auf eine unsachliche und missbräuchliche Verwendung einer solchen dienstlichen Weisung (vgl. § 35 Satz 2 BeamtStG) zu untersuchen.

(Oberverwaltungsgericht Koblenz, Beschluß vom 19.10.2018 - 2 B 11229/18 )

​​​​​​​​​​​​​​

Düsseldorfer Tabelle 2019

Zum 1. Januar 2019 sind die Bedarfssätze der Düsseldorfer Tabelle angehoben worden. Besonders wichtig: Der Mindestunterhalt für Kinder bis zum 5. Lebensjahr steigt um 10 Euro auf 354 Euro, bei Kindern zwischen dem 6. und 11. Lebensjahr um 7 Euro auf 406 Euro und bei Kindern zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr um 9 Euro auf 476 Euro. Im einzelnen siehe Erläuterungen dazu hier.

Bundesverfassungsgericht

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen tarifvertragliche Differenzierungsklausel

Eine unterschiedliche Behandlung gewerkschaftlich organisierter und nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in einem Tarifvertrag verletzt nicht die negative Koalitionsfreiheit, solange sich daraus nur ein faktischer Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht. Mit dieser Begründung hat die 2. Kammer des Ersten Senates mit am 21. Dezember 2018 veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbe-schwerde eines gewerkschaftlich nicht organisierten Beschäftigten, der sich durch eine sogenannte „Differenzierungs-klausel“ in einem Tarifvertrag benachteiligt sah, nicht zur Entscheidung angenommen.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. November 2018 -  BvR 1278/16 - Pressemitteilung Nr. 89/2018 vom 21. Dezember 2018)

Bundesgerichtshof

Zum Anspruch auf Unterlassung der kostenlosen Verteilung eines kommunalen "Stadtblatts"

Der unter anderem für Ansprüche aus dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass eine Kommune nicht berechtigt ist, ein kommunales Amtsblatt kostenlos im gesamten Stadtgebiet verteilen zu lassen, wenn dieses presseähnlich aufgemacht ist und redaktionelle Beiträge enthält, die das Gebot der "Staatsferne der Presse" verletzen.

Eine Gebietskötperschaft ist dann zur Unterlassung verpflichtet, wenn sie mit der kostenlosen Verteilung des "Stadt-blatts" gegen das aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG folgende Gebot der Staatsferne der Presse verstößt. Bei diesem Gebot handelt es sich um eine Marktverhaltensregelung. Die Verletzung einer solchen Regelung ist wettbewerbswidrig und begründet Unterlassungsansprüche von Mitbewerbern. Umfang und Grenzen des Gebots der Staatsferne der Presse sind bei gemeindlichen Publikationen unter Berücksichtigung der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und der daraus folgenden gemeindlichen Kompetenzen einerseits sowie der Garantie des Instituts der freien Presse des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG andererseits zu bestimmen. Äußerungs- und Informationsrech-te der Gemeinden finden ihre Legitimation in der staatlichen Kompetenzordnung, insbesondere in der Selbstverwal-tungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Die darin liegende Ermächtigung zur Information der Bürgerinnen und Bürger erlaubt den Kommunen allerdings nicht jegliche pressemäßige Äußerung mit Bezug zur örtlichen Gemein-schaft. Kommunale Pressearbeit findet ihre Grenze in der institutionellen Garantie des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Diese Verfassungsbestimmung garantiert als objektive Grundsatznorm die Freiheitlichkeit des Pressewesens insgesamt.Für die konkrete Beurteilung kommunaler Publikationen sind deren Art und Inhalt sowie eine wertende Gesamtbetrach-tung maßgeblich. Danach müssen staatliche Publikationen eindeutig - auch hinsichtlich Illustration und Layout - als solche erkennbar sein und sich auf Sachinformationen beschränken. Inhaltlich auf jeden Fall zulässig sind die Ver-öffentlichung amtlicher Mitteilungen sowie die Unterrichtung über Vorhaben der Kommunalverwaltung und des Ge-meinderats. Unzulässig ist eine pressemäßige Berichterstattung über das gesellschaftliche Leben in der Gemeinde; dieser Bereich ist originäre Aufgabe der lokalen Presse und nicht des Staates. Bei der erforderlichen wertenden Ge-samtbetrachtung ist entscheidend, ob der Gesamtcharakter des Presseerzeugnisses geeignet ist, die Institutsgarantie aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu gefährden. Je stärker die kommunale Publikation den Bereich der ohne weiteres zu-lässigen Berichterstattung überschreitet und bei den angesprochenen Verkehrskreisen - auch optisch - als funktio-nales Äquivalent zu einer privaten Zeitung wirkt, desto eher ist das Gebot der Staatsferne der Presse verletzt.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. Dezember 2018 - I ZR 112/17 ; Pressemitteilung Nr. 196/2018 vom 20.12.2018)

 

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

 

§ 3a UWG

Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.

 

Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG

Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.

 

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.

 

Bundesarbeitsgericht

Kündigung - Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung

Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen, die ein Arbeitgeber ohne Anhörung der Schwerbehindertenvertretung ausspricht, ist gem. § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX in der vom 30. Dezember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) unwirksam. Der erforderliche Inhalt der Anhörung und die Dauer der Frist für eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung richten sich nach den für die Anhörung des Betriebsrats geltenden Grundsätzen (§ 102 BetrVG). Die Kündigung ist nicht allein deshalb unwirksam, weil der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung entgegen § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF (seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) nicht unverzüglich über seine Kündigungsabsicht unterrichtet oder ihr das Festhalten an seinem Kündigungsentschluss nicht unverzüglich mitgeteilt hat.

(Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 378/18: Pressemitteilung Nr. 68/18 vom 13.12.2018)

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (Kiel)

Arbeitsvertragsschluss durch tatsächliches Handeln

Ein Arbeitsvertrag kann zustande kommen, indem der Arbeitnehmer seine Arbeit tatsächlich aufnimmt und der Arbeit-geber die Arbeit annimmt. Arbeitnehmer und Arbeitgeber erklären dadurch konkludent Angebot und Annahme des Arbeitsvertrags. Ein tarifliches Schriftformgebot für den Abschluss eines Arbeitsvertrags führt in der Regel nicht zur Unwirksamkeit des durch tatsächliches Handeln zustande gekommenen Arbeitsvertrags.

(Landesarbeitsgericht  Schleswig-Holstein, Urteil vom 7. August 2018  - 1 Sa 23/18; Pressemitteilung vom 17.12.2018)

Presserecht

Rechtsbegriffe sind nur eingeschränkt gegendarstellungsfähig

Für einen Gegendarstellungsanspruch muss der Aussagegehalt der zu beanstandenden Äußerung eindeutig be-stimmbar sein. Enthält die zu beanstandende Äußerung einen Rechtsbegriff, darf das Fachgericht nicht das eigene Fachwissen zugrunde legen. Es hat vielmehr auf das Verständnis des durchschnittlichen Zeitungslesers abzustellen. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit am 19. Dezember 2018 veröffentlich-tem Beschluss entschieden und der Verfassungsbeschwerde eines Verlags stattgegeben, die sich gegen die Ver-pflichtung zum Abdruck einer Gegendarstellung wendete.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. November 2018 - 1 BvR 2716/17; Pressemitteilung Nr. 88/2018 vom 19. Dezember 2018)

 

Bundesverfassungsgericht

Das Organstreitverfahren eröffnet nicht die Möglichkeit einer objektiven Beanstandungsklage

Mit am 18. Dezember 2018 veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts drei Anträge der AfD-Bundestagsfraktion im Organstreitverfahren einstimmig als unzulässig verworfen (§ 24 Satz 1 BVerfGG). Die Anträge waren gegen die Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden an der deutschen Grenze ins-besondere im Jahr 2015 gerichtet. Die Antragstellerin hat nicht hinreichend dargelegt, dass entsprechende Entschei-dungen der Bundesregierung sie in ihren Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet hätten. Ihre Anträge zielten vielmehr auf die Wahrung objektiven Rechts und die Verpflichtung zu einer Handlung - der Zurückweisung von Asylbewerbern an den Grenzen. Beides ist nach stetiger Rechtsprechung im Organstreitverfahren nicht zulässig.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - 2 BvE 1/18; Pressemitteilung Nr. 87/2018 vom 18. Dezember 2018)

 

Bundesverfassungsgericht

Niedersächsische Regelungen zur Besoldung bei begrenzter Dienstfähigkeit verfassungswidrig

Mit einem am 14. Dezember 2018 veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts  eine Besoldungsregelung für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, nach der aus gesundheitlichen Gründen begrenzt dienstfähige Beamte lediglich eine an der freiwilligen Teilzeitbeschäftigung orientierte Besoldung erhalten. Zur Begründung hat der Senat angeführt, dass der Gesetzgeber die durch die begrenzte Dienstfähigkeit eingetretene Störung des wechselseitigen Pflichtengefüges zwar besoldungsmindernd berücksichtigen darf. Begrenzt dienstfähige Beamte scheiden aber anders als bei einer Zurruhesetzung wegen Dienstunfähigkeit nicht vorzeitig aus dem aktiven Dienst aus. Ihre Verpflichtung, sich ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf zu widmen, bleibt unberührt. Kom-men sie dieser Verpflichtung im Umfang ihrer verbliebenen Arbeitskraft nach, muss sich ihre Besoldung an der vom Dienstherrn selbst für amtsangemessen erachteten Vollzeitbesoldung orientieren.

Der Senat hat dem Gesetzgeber des Landes Niedersachsen aufgegeben, eine verfassungskonforme Regelung mit Wirkung spätestens vom 1. Januar 2020 an zu treffen.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. November 2018 - 2 BvL 3/15; Pressemitteilung Nr. 86/2018 vom 14. Dezember 2018)

​​​

Bundesgerichtshof

Ehefrau der Kindesmutter wird nicht aufgrund der Ehe zum rechtlichen Mit-Elternteil des Kindes

Der unter anderem für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte sich mit der Frage zu befassen, ob die Ehefrau der das Kind gebärenden Mutter (allein) aufgrund der bestehenden Ehe als weiterer Elternteil des Kindes in das Geburtenregister einzutragen ist. Er hat dies verneint, weil die bei verschiedengeschlecht-lichen Ehepaaren geltende Abstammungsregelung des § 1592 Nr. 1 BGB* bei gleichgeschlechtlichen Ehepaaren nicht gilt.

(Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10. Oktober 2018 - XII ZB 231/18 ; Pressemitteilung Nr. 172/18 vom 30.10.2018)

EuGH

Kein automatischer Verfall des Urlaubsanspruchs wegen nicht gestellten Urlaubsantrags

1. Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung ent-gegenstehen, nach der ein Arbeitnehmer, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Urlaubsantrag gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber z.B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage ver-setzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.

2. Kann das nationale Recht nicht im Einklang mit Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh ausgelegt werden, ist die nationale Regelung gemäß Art. 31 Abs. 2 GRCh in einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem früheren privaten Arbeitgeber unangewendet zu lassen.

(EuGH Große Kammer, Urteil vom 06.11.2018 - C-684/16)

Höhere Mautsätze ab 2019

Ab Januar 2019 gelten neue Mautsätze für Lkw auf Autobahnen und Fernstraßen. Der Bundesrat hat am 23. Novem-ber 2018 einen entsprechenden Bundestagsbeschluss vom 2. November gebilligt. In den neuen Mautsätzen werden künftig auch Kosten der Lärmbelastung und Luftverschmutzung berücksichtigt. Elektro-Lkw sind von der Gebühr be-freit. Gewichtsklassen als zusätzliche Berechnungsgrundlage sollen die Verursachergerechtigkeit im Vergleich zu den bisherigen Achsklassen erhöhen: Sie entlasten leichtere Nutzfahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht zwi-schen 7,5 und 18 Tonnen und kommen zum Beispiel handwerklichen Betrieben zugute.Mit Erdgas betriebene Lkw sind bis 2020 von der Maut befreit, ebenso land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchst-geschwindigkeit von 40 km/h. Diese Ausnahme geht auf eine Forderung des Bundesrates in dessen Stellungnahme zum ursprünglichen Regierungsentwurf zurück.Die Höhe der Lkw-Maut orientiert sich an den Kosten für Bau, Betrieb und Instandhaltung des Straßennetzes. Diese Kosten werden in regelmäßigen Abständen durch sogenannte Wege-kostengutachten ermittelt. Auf Basis des neuen Gutachtens werden die Mautsätze nun aktualisiert.Für den Zeitraum 2019 bis 2022 rechnet das Bundesverkehrsministerium mit Mehreinnahmen von knapp 4,2 Milliarden Euro, die zweckgebunden in die Straßeninfrastruktur fließen.Das Gesetz wird nun über die Bundesregierung dem Bundesprä-sidenten zur Unterzeichnung zugeleitet und nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt zum 1. Januar 2019 in Kraft treten.

(Pressemitteilung des Bundesrates vom 23.11.2018)

Veröffentlichung der Musterfeststellungsklage des Bundesverbands der Verbraucherzentralen gegen die VW AG veranlasst

Der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig hat am 23. November 2018 die öffentliche Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen gegen die Volkswagen AG veranlasst. Damit können die Feststellungsziele und der der Klage zugrundeliegende Sachverhalt nun vom Bundesamt für Justiz im Klageregister eingestellt werden und Verbraucher sich zu der Musterfeststellungsklage anmelden.

 

In der am 1. November 2018 eingereichten Musterfeststellungsklage will der Bundesverband der Verbraucherzen-tralen geklärt wissen, ob Verbrauchern, die vom sog. VW-Abgasskandal betroffene Fahrzeuge erworben haben, Schadensersatzansprüche gegen die VW AG zustehen. Auch der Umfang der Schadensersatzansprüche soll fest-gestellt werden. Dabei geht es um Fahrzeuge der Marken VW, Audi, Skoda und Seat, die einen Motor der Baureihe EA189 und die eine von dem Kraftfahrt-Bundesamt oder einer vergleichbaren Genehmigungsbehörde in Europa als unerlaubt eingestufte Abschalteinrichtung verbaut haben.

 

Der 4. Zivilsenat hatte zu prüfen, ob es sich bei dem Bundesverband der Verbraucherzentralen um eine „qualifizierte Einrichtung“ im Sinne des neuen Gesetzes handelt und ob von den beantragten Feststellungszielen die Ansprüche von mindestens zehn Verbrauchern abhängen. Dies hat der Senat für nahezu alle Feststellungsziele bejaht. Lediglich hinsichtlich einiger weniger hilfsweise beantragten Feststellungsziele hat der Senat die Veröffentlichung – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – abgelehnt. Der Musterkläger habe insoweit nicht nachgewiesen, dass mindestens zehn Verbraucher betroffen seien. Der Musterkläger kann hier noch nachbessern.

(Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 23. November 2018)

Bundesverfassungsgericht

Absenkung der Eingangsbesoldung in Baden-Württemberg verfassungswidrig

Der Zweite Senat hat mit am 16. Oktober 2018 veröffentlichtem Beschluss eine baden-württembergische Besoldungs-regelung für nichtig erklärt, die eine Absenkung der Beamten- und Richtergehälter für die ersten drei Jahre des Dienstverhältnisses in bestimmten Besoldungsgruppen vorsah. Zur Begründung hat der Senat angeführt, dass Beam-te nicht dazu verpflichtet sind, stärker als andere zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte beizutragen. Eine Ein-schränkung des Grundsatzes der amtsangemessenen Alimentierung aus rein finanziellen Gründen kommt zur Be-wältigung von Ausnahmesituationen nur in Betracht, wenn die Maßnahme Teil eines schlüssigen und umfassenden Konzepts der Haushaltskonsolidierung ist. Das notwendige Sparvolumen ist dabei gleichheitsgerecht zu erwirtschaf-ten. Die Festlegung der Besoldungshöhe durch den Gesetzgeber ist zudem an die Einhaltung prozeduraler Anforde-rungen geknüpft. Trifft der Gesetzgeber zur Reduzierung der Staatsausgaben mehrere Maßnahmen in engem zeit-lichem Zusammenhang, hat er sich mit den Gesamtwirkungen für die Beamtinnen und Beamten auseinanderzuset-zen.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. Oktober 2018, 2 BvL 2/17,  Pressemitteilung Nr. 82/2018 vom 28. November 2018)

Bundesverwaltungsgericht

Bayerischer Landtag muss der Presse Auskunft über die Höhe der Vergütung der im häuslichen Abgeordnetenbüro beschäftigten Ehefrau erteilen

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 27. September 2018 entschieden, dass das Landtagsamt einem Journalisten Auskunft über das von einem Landtagsabgeordneten an seine Ehefrau für die Beschäftigung im häuslichen Abgeord-netenbüro gezahlte Bruttogehalt geben muss.  Die schutzwürdigen Interessen des Abgeordneten und seiner Ehefrau stünden - so das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Vorinstanz - der begehrten Auskunft nicht entgegen. Nach der hier erforderlichen Abwägung gebühre dem durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Auskunftsanspruch der Presse der Vorrang gegenüber der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit des Mandats und dem Schutz personenbezogener Daten des Abgeordneten und seiner Ehefrau.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. September 2018 - 7 C 5.17 -, Pressemitteilung Nr. 68/2018 vom 28.09.2018)

Bundesverwaltungsgericht

Unentgeltliche Beförderung von schwerbehinderten Menschen im Fährverkehr

Bei dem Fährverkehr zwischen Emden und Borkum handelt es sich um Nahverkehr im Sinne des Schwerbehinderten-rechts. Menschen mit Behinderungen, die über einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen „G“ und eine erforderliche Wertmarke verfügen, steht daher ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung zu. Dies hat das Bundes-verwaltungsgericht in Leipzig am 27. September 2018 entschieden. (.....) Nahverkehr - so das Bundesverwaltungs-gericht - ist nach der gesetzlichen Regelung der öffentliche Personenverkehr mit Wasserfahrzeugen im Linien-, Fähr- und Übersetzverkehr, wenn dieser der Beförderung von Personen im Orts- und Nachbarschaftsbereich dient und Ausgangs- und Endpunkt innerhalb dieses Bereiches liegen. Den Nachbarschaftsbereich definiert das Gesetz als den Raum zwischen benachbarten Gemeinden, die, ohne unmittelbar aneinandergrenzen zu müssen, durch einen ste-tigen, mehr als einmal am Tag durchgeführten Verkehr wirtschaftlich und verkehrsmäßig verbunden sind.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. September 2018 - B 5 C 7.17 - Pressemitteilung Nr. 66/2018 vom 27.09.2018)

Bundesarbeitsgericht

Unwirksamkeit einer Verfallklausel im Arbeitsrecht

Eine vom Arbeitgeber vorformulierte arbeitsvertragliche Verfallklausel, die entgegen § 3 Satz 1 MiLoG (Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns, gültig seit dem 16. August 2014) auch den gesetzlichen Mindestlohn erfasst, verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und ist insgesamt unwirksam, wenn der Arbeitsvertrag nach dem 31. Dezember 2014 geschlossen wurde. § 3 Satz 1 MiLoG schränkt die Anwendung der §§ 306, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB (betrifft Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen) nicht ein.

(Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. September 2018 - 9 AZR 162/18)

Mindestlohn soll angehoben werden

Am 26. Juni 2018 hat die Mindestlohnkommission ihren Zweiten Beschluss zur Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns gefasst sowie den Zweiten Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns vorgelegt. Der Beschluss der Mindestlohnkommission sieht einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 9,19 Euro brutto je Zeit-stunde mit Wirkung zum 1. Januar 2019 und von 9,35 Euro brutto je Zeitstunde mit Wirkung zum 1. Januar 2020 vor. Die Bundesregierung setzt diesen durch eine Rechtsverordnung in Kraft.

(https://www.mindestlohn-kommission.de/DE/Bericht/bericht_node.html)

Bundesverwaltungsgericht

Leitsätze zur Verwirkung des Anfechtungsrechts im beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit

1.  Das Recht des in einem Beförderungsverfahren nicht berücksichtigten Beamten, eine Verletzung seines Bewerbungsverfahrensanspruchs durch Anfechtung der Ernennung des ausgewählten Beamten geltend zu machen, unterliegt der Verwirkung (Fallkonstellation des ausnahmsweise eröffneten nachgehenden Primärrechtsschutzes wegen Verhinderung oder Unmöglichkeit vorherigen Eilrechtsschutzes, vgl. BVerwG, Urteil vom 4. November 2010 - 2 C 16.09 - BVerwGE 138, 102 Rn. 29 ff.).

 

2. Eine Verwirkung kann anzunehmen sein, wenn der Beamte hinreichende Kenntnis vom Umstand regelmäßig stattfindender Beförderungen in seinem Verwaltungsbereich hatte (Anstoßwirkung). Der positiven Kenntnis steht es gleich, wenn sich ihm eine solche Kenntnis hätte aufdrängen müssen und er etwa fehlendes Wissen über nähere Einzelheiten des Beförderungsverfahrens durch einfache Nachfrage beim Dienstherrn oder beim Personalrat hätte erlangen können.

 

3. Die zeitliche Grenze, ab der das Anfechtungsrecht in derartigen Fallkonstellationen verwirkt sein kann, ist in Anlehnung an die gesetzliche Wertung in § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO regelmäßig mit einem Jahr ab der jeweiligen Ernennung anzusetzen.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30.08.2018 - B 2 C 10.17)

Bundesgerichtshof

Anforderungen an die Beratungspflicht des Sozialhilfeträgers bei deutlich erkennbarem Beratungsbedarf in einer wichtigen rentenversicherungsrechtlichen Frage

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich am 2. August 2018 in einer Entscheidung mit der Frage befasst, welche Anforderungen an die Beratungspflicht des Trägers der Sozialhilfe gemäß § 14 Satz 1 SGB I zu stellen sind, wenn bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung (§§ 41 ff SGB XII) ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf erkennbar ist.
Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat. Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I).

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 2 SGB I
Soziale Rechte

Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

§ 14 SGB I
Beratung
1Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. 2Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind.

§ 17 SGB I
Ausführung der Sozialleistungen
(1) Die Leistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß  
1.
jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält,
2.
die zur Ausführung von Sozialleistungen erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen,
3.
der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach gestaltet wird, insbesondere durch Verwendung allgemein verständlicher Antragsvordrucke und
4.


§ 839 BGB
Haftung bei Amtspflichtverletzung

 

(1) 1Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. 2Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.

(2) 1Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. 2Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amts findet diese Vorschrift keine Anwendung.

(3) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.

Art. 34 GG
1Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. 2Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten. 3Für den Anspruch auf Schadensersatz und für den Rückgriff darf der ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 2. August 2018, III ZR 466/16, Pressemitteilung Nr. 130/2018 vom 02.08.2018)

Bundesverfassungsgericht

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung wegen Leugnung des nationalsozialistischen Völkermords

 

Eine Bestrafung wegen Leugnung des nationalsozialistischen Völkermords ist grundsätzlich mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die gegen eine Verurteilung wegen Volksverhetzung in der Tatbestandsvariante der Leugnung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangener Verbrechen, namentlich der Morde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, gerichtet war. Die Verbreitung erwiesen unwahrer und bewusst falscher Tatsachenbehauptungen kann nicht zur Meinungsbildung beitragen und ist als solche nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Insoweit kann sich die Beschwerdeführerin nicht auf Art. 5 Abs. 1 GG berufen. Soweit sie die Leugnung des nationalsozialistischen Völkermords darüber hinaus auf vermeintlich eigene Schlussfolgerungen und Bewertungen stützt, kann sie sich zwar auf ihre Meinungsfreiheit berufen. Der in der Verurteilung wegen dieser Äußerungen liegende Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich grundsätzlich gerechtfertigt. Die Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes überschreitet die Grenzen der Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung und indiziert eine Störung des öffentlichen Friedens.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Juni 2018, 1 BvR 673/18, Pressemitteilung Nr. 67/2018 vom 3. August 2018)

Bundesverfassungsgericht

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung wegen Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords

Eine Verurteilung nach § 130 Abs. 3 StGB wegen Billigung, Leugnung oder Verharmlosung bestimmter unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangener Verbrechen kommt in allen Varianten - und damit auch in der Form des Verharmlosens - nur bei Äußerungen in Betracht, die geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu gefährden. Dies ist bei der Verharmlosung eigens festzustellen und nicht wie bei anderen Varianten indiziert. Mit dieser Begründung hat die 3. Kammer des Ersten Senats mit am 3. August 2018 veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwer-de stattgegeben, die sich gegen eine solche Verurteilung richtete. Der Verurteilung lagen keine tragfähigen Fest-stellungen zugrunde, nach denen die Äußerungen des Beschwerdeführers geeignet waren, den öffentlichen Frieden in dem von der Meinungsfreiheit gebotenen Verständnis als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung zu gefährden. Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konse-quenz gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet sind, gehört zum freiheitlichen Staat. Eine Verharmlosung des Nationalsozialismus als Ideologie oder eine anstößige Geschichtsinterpretation dieser Zeit allein begründen eine Strafbarkeit nicht.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Juni 2018, 1 BvR 2083/15, Pressemitteilung Nr. 66/2018 vom 3. August 2018)

Bundesverfassungsgericht

Vorschriften über die Pflicht zur Abgabe landwirtschaftlicher Höfe als Voraussetzung eines
Rentenanspruchs verfassungswidrig

Die Koppelung einer Rente an die Abgabe eines landwirtschaftlichen Hofs greift faktisch in die
Eigentumsfreiheit des Art. 14 GG ein. Die Pflicht zu einer solchen Hofabgabe wird
verfassungswidrig, wenn diese in unzumutbarer Weise Einkünfte entzieht, die zur Ergänzung einer als
Teilsicherung ausgestalteten Rente notwendig sind. Darüber hinaus darf die Gewährung einer Rente an
den einen Ehepartner nicht von der Entscheidung des anderen Ehepartners über die Abgabe des Hofs
abhängig gemacht werden. Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
mit dem am 9. August 2018 veröffentlichten Beschluss die einschlägigen Vorschriften für verfassungswidrig erklärt,
den Verfassungsbeschwerden eines Landwirtes und der Ehefrau eines Landwirtes stattgegeben und die
Verfahren unter Aufhebung der Gerichtsentscheidungen an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
zurückverwiesen.
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23. Mai 2018, 1 BvR 97/14, 1 BvR 97/14, 1 BvR 2392/14, Pressemitteilung Nr. 68/2018 vom 9. August 2018)
 

Bundesverfassungsgericht

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Fixierung von Patienten in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung

Die Fixierung von Patienten stellt einen Eingriff in deren Grundrecht auf Freiheit der Person dar. Aus dem Freiheitsgrundrecht sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergeben sich strenge Anforderungen an die Recht-fertigung eines solchen Eingriffs: Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage muss hinreichend bestimmt sein und den materiellen und verfahrensmäßigen Anforderungen genügen. Bei einer nicht nur kurzfristigen Fixierung handelt es sich um eine Freiheitsentziehung, für die Art. 104 Abs. 2 GG den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richter-lichen Entscheidung vorsieht. Aufgrund ihrer besonderen Eingriffsintensität ist die nicht nur kurzfristige Fixierung sämtlicher Gliedmaßen auch im Rahmen eines bereits bestehenden Freiheitsentziehungsverhältnisses als eigenstän-dige Freiheitsentziehung zu qualifizieren, die den Richtervorbehalt abermals auslöst, von einer richterlichen Unter-bringungsanordnung also nicht gedeckt ist. Aus Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG folgt ein Regelungsauftrag an den Gesetz-geber, verfahrensrechtliche Bestimmungen für die richterliche Anordnung freiheitsentziehender Fixierungen zu treffen. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auf zwei Verfassungsbeschwerden hin mit am 24. Juli 2018 verkündetem Urteil die einschlägige Vorschrift des Landes Baden-Württemberg für verfassungs-widrig erklärt und bestimmt, dass der baden-württembergische und der bayerische Gesetzgeber – der bislang keine spezielle Rechtsgrundlage für Fixierungen erlassen hat – verpflichtet sind, bis zum 30. Juni 2019 einen verfassungs-gemäßen Zustand herbeizuführen.

(Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 24. Juli 2018 - 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16, Pressemitteilung Nr. 62/2018 vom 24. Juli 2018)

Bundesgerichtshof

Zur Haftung des Betreibers einer Waschstraße

Bei einem Vertrag über die Reinigung eines Fahrzeugs besteht die Schutzpflicht des Betreibers der Waschstraße, das Fahrzeug des Kunden vor Beschädigungen beim Waschvorgang zu bewahren. Dabei kann allerdings nicht jeder ab-strakten Gefahr vorbeugend begegnet werden. Es sind nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die nach den Umstän-den erforderlich und zumutbar sind. Die Zumutbarkeit von Sicherungsvorkehrungen bestimmt sich dabei unter Ab-wägung der Wahrscheinlichkeit der Gefahrverwirklichung, der Gewichtigkeit möglicher Schadensfolgen und der Höhe des Kostenaufwands, der mit den Sicherungsvorkehrungen einhergeht. Zu den gebotenen Sicherungsvorkehrungen kann auch die Erfüllung von Hinweispflichten gehören.

Der Schutz der Rechtsgüter der Benutzer erfordert es, dass von dem Betreiber der Waschstraße nicht nur die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik verlangt wird. Sind Schädigungen zu besorgen, wenn die Kunden bei der Nutzung der Anlage - zwar selten, aber vorhersehbar - nicht die notwendigen Verhaltensregeln einhalten, muss der Betreiber in geeigneter Weise darauf hinwirken, dass kein Fehlverhalten vorkommt. Den Betreiber einer Waschstraße trifft deshalb die Pflicht, die Benutzer der Anlage in geeigneter und ihm zumutbarer Weise über die zu beachtenden Verhaltensregeln zu informieren.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. Juli 2018 - VII ZR 251/17, Pressemitteilung Nr. 120/2018 vom 19.07.2018)

​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​

Bundesverfassungsgericht

Vorschriften zur Erhebung des Rundfunkbeitrages für die Erstwohnung und im nicht privaten Bereich sind verfassungsgemäß

Die Rundfunkbeitragspflicht ist im privaten und im nicht privaten Bereich im Wesentlichen mit der Verfassung vereinbar. Mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar ist allerdings, dass auch für Zweitwohnungen ein Rundfunkbeitrag zu leisten ist. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 18. Juli 2018 auf die Verfassungsbeschwerden dreier beitragspflichtiger Bürger und eines Unternehmens hin entschieden und die gesetzlichen Bestimmungen zur Beitragspflicht für Zweitwohnungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Er hat den zuständigen Landesgesetzgebern aufgegeben, insofern bis zum 30. Juni 2020 eine Neuregelung zu treffen. Nach dem Urteil steht das Grundgesetz der Erhebung von Beiträgen nicht entgegen, die diejenigen an den Kosten einer öffentlichen Einrichtung beteiligen, die von ihr - potentiell - einen Nutzen haben. Beim Rundfunkbeitrag liegt dieser Vorteil in der Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu können. Auf das Vorhandensein von Empfangsgeräten oder einen Nutzungswillen kommt es nicht an. Die Rundfunkbeitragspflicht darf im privaten Bereich an das Innehaben von Wohnungen anknüpfen, da Rundfunk typischerweise dort genutzt wird. Inhaber mehrerer Wohnungen dürfen für die Möglichkeit privater Rundfunknutzung allerdings nicht mit insgesamt mehr als einem vollen Rundfunkbeitrag belastet werden.

(Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18. Juli 2018, 1 BvR 1675/16, 1 BvR 981/17, 1 BvR 836/17, 1 BvR 745/17

Pressemitteilung Nr. 59/2018 vom 18. Juli 2018)


Bundesgerichtshof

Vertrag über ein Benutzerkonto bei einem sozialen Netzwerk ist vererbbar

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juli 2018 entschieden, dass der Vertrag über ein Benutzerkonto bei einem sozialen Netzwerk grundsätzlich im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die Erben des ursprünglichen Kontoberechtigten übergeht und diese einen Anspruch gegen den Netzwerkbetreiber auf Zugang zu dem Konto einschließlich der darin vorgehaltenen Kommunikationsinhalte haben.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 12. Juli 2018, III ZR 183/17, Pressemitteilung Nr. 115/2018 vom 12.07.2018)   

Siehe im einzelnen dazu hier

BVerwG zum Beamtenrecht

Kein Schadensersatz wegen Nichtbeförderung bei Verstoß des Beamten gegen Erkundigungs- und Rügeobliegenheit

Ein Beamter muss sich über das „Ob“ und „Wann“ von Beförderungsverfahren erkundigen und ggf. Mängel rügen, wenn er nicht Gefahr laufen will, einen etwaigen Anspruch auf Schadensersatz wegen seiner rechtswidrigen Nicht-berücksichtigung in einem Beförderungsverfahren zu verlieren. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 15. Juni 2018 entschieden. Die besondere Erkundigungs- und Rügeobliegenheit für an ihrem beruflichen Fortkommen interessierte Beamte hat ihren rechtlichen Grund in dem durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamten-tums nach Art. 33 Abs. 5 GG geprägten Dienst- und Treueverhältnis, das Dienstherrn und Beamten verbindet. Ein Beamter, der an seinem beruflichen Fortkommen interessiert und sich über das „Ob“ und „Wann“ von Beförderungs-verfahren im Unklaren ist, hat die Obliegenheit, sich bei seinem Dienstherrn darüber näher zu erkundigen und für den Fall von als unzureichend angesehenen Auskünften diese zu rügen und gegen drohende Ernennungen mit Mitteln des vorläufigen Rechtsschutzes vorzugehen.

(BVerwG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 2 C 19.17 - Pressemitteilung Nr. 40/2018 vom 15.06.2018)

Ordnungswidrigkeitenverfahren

Herausgabe der bei der Messung mit einem Lasermeßgerät angefallenen digitalen Daten

Das Recht auf ein faires Verfahren (Art 60 Abs 1 Verf SL iVm Art 12 Abs 1 Verf SL) gilt auch im Ordnungswidrigkeiten-verfahren. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt ein Anspruch auf materielle Beweisteilhabe, also auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung  Der fair-trial-Grundsatz begründet auch ein Recht auf Akteneinsicht. Gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens wird verstoßen, wenn dem Betroffenen eines auf Daten eines stan-dardisierten Messverfahrens beruhenden Bußgeldverfahrens (hier: Feststellung eines Rotlichtverstoß mittels stationärem Lasermessgerät "PoliScan F1 HP") die Messdaten nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Dem Betroffenen sind die bei der Messung angefallenen digitalen Daten als Grundlage der Messung - auch wenn sie sich nicht in der Akte befinden und damit von § 147 StPO iVm § 46 OWiG nicht erfasst werden - zur Verfügung zu stellen. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör ist jedenfalls durch die Nichtherausgabe einer lesbaren Falldatei mit Token-Datei und Passwort sowie der Statistikdatei verletzt. Zudem ist es willkürlich und unfair und begründet einen Gehörsverstoß, wenn nach Nichtzu-gänglichmachung der Messdaten - in dieser Situation - der Beweisantrag auf Einholung eines technischen Gutachtens zur weiteren Überprüfung der Messung auf Fehlerhaftigkeit mit der Begründung abgelehnt wird, es liege ein standardisiertes Verfahren vor, und damit ausdrücklich oder stillschweigend dem Beschwerdeführer oder der Vertei-digung vorgeworfen wird, es seien keine konkreten Anhaltspunkte für Messfehler dargelegt worden. Eine solche Darlegung wäre nämlich erst nach Einsicht in die Messdaten möglich gewesen.

(Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018, Lv 1/18)

Bundesverfassungsgericht

Keine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft wegen Überlastung des Gerichts

Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Einem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine unangemessen lange Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen. Mit dieser Begründung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit am 26. Juni 2018 veröffentlichtem Beschluss der Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten gegen eine Haftfortdauerentscheidung stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Dresden zurückverwiesen. Das Verfahren war nicht in der gebotenen Zügigkeit gefördert worden. Die Fachgerichte hatten bereits nicht schlüssig begründet, warum ein besonderer Ausnahmefall vorgelegen haben sollte, der es gerechtfertigt hätte, dass das Landgericht Dresden erst ein Jahr und einen Monat nach Beginn der Untersuchungshaft und sieben Monate nach der Anklageerhebung mit der Hauptverhandlung begonnen hat. Erst recht wird die bisherige Verhandlungsdichte mit weit weniger als einem Verhandlungstag pro Woche dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot nicht gerecht.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Juni 2018, 2 BvR 819/18, Pressemitteilung Nr. 52/2018 vom 26. Juni 2018)

Arbeitsrecht

Fußballspiel anschauen während der Arbeitszeit

Das Anschauen eines Fußballspiels an einem dienstlichen Computer über einen Livestream eines Bezahlsenders während der Arbeitszeit ist vergleichbar mit einer Pflichtverletzung durch private Internetnutzung während der Arbeitszeit. Hierbei verletzt der Arbeitnehmer grundsätzlich seine Hauptleistungspflicht zur Arbeit (BAG, Urteil vom 27.04.2006 – 2 AZR 386/05, juris, Rn. 25; BAG, Urteil vom 07.07.2005 – 2 AZR 581/04, juris, Rn. 27; vgl. auch BAG, Urteil vom 31.05.2007 – 2 AZR 200/06, juris, Rn. 19). Die Pflichtverletzung wiegt dabei umso schwerer, je mehr der Arbeitnehmer bei der privaten Nutzung des Internets seine Arbeitspflicht in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht vernachlässigt (BAG, Urteil vom 27.04.2006 – 2 AZR 386/05, juris, Rn. 25; BAG, Urteil vom 07.07.2005 – 2 AZR 581/04, juris, Rn. 27).........Es liegt damit eine abmahnungsfähige Pflichtverletzung vor.

(Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 19. Oktober 2017, 11 Ca 4400/17)

Bundesverfassungsgericht

Streikverbot für Beamte verfassungsgemäß

Das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte ist als eigenständiger hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums vom Gesetzgeber zu beachten. Es steht auch mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Einklang und ist insbesondere mit den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 12. Juni 2018 vier gegen das Streikverbot für Beamte gerichtete Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführenden sind oder waren als beamtete Lehrkräfte an Schulen in drei verschiedenen Bundesländern tätig. Sie nahmen in der Vergangenheit während der Dienstzeit an Protestveranstaltungen beziehungsweise Streikmaßnahmen einer Gewerkschaft teil. Diese Teilnahme wurde durch die zuständigen Disziplinarbehörden geahndet. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Streikteilnahme stelle einen Verstoß gegen grundlegende beamtenrechtliche Pflichten dar. Insbesondere dürfe ein Beamter nicht ohne Genehmigung dem Dienst fernbleiben. In den fachgerichtlichen Ausgangsverfahren wandten sich die Beschwerdeführerinnen sowie der Beschwerdeführer letztlich erfolglos gegen die jeweils ergangenen Disziplinarverfügungen.

(Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 12. Juni 2018, 2 BvR 1738/12, 2 BvR 646/15, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 1395/13, Pressemitteilung Nr. 46/2018 vom 12. Juni 2018)

BVerwG

Mehrehe eines Ausländers hindert nicht dessen Anspruchseinbürgerung

Eine rechtswirksam im Ausland eingegangene weitere Ehe schließt zwar eine privilegierte Einbürgerung von Ehegatten Deutscher nach § 9 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) mangels Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aus. Sie steht aber einem wirksamen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und damit einem Einbürgerungsanspruch nach § 10 StAG nicht entgegen.

(BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2018, 1 C 15.17, Pressemitteilung Nr. 36/2018 vom 30.05.2018)

Presserecht

Anspruch auf Gegendarstellung trotz unterlassener Stellungnahme im Vorfeld einer Berichterstattung

Der Anspruch auf Abdruck einer Gegendarstellung besteht auch dann, wenn die betroffene Person zuvor keine Stellungnahme zu einer geplanten Berichterstattung abgegeben hat, obwohl der Redakteur ihr eine solche Möglichkeit eingeräumt hat. Eine unterlassene Erklärung begründet grundsätzlich keine Obliegenheitsverletzung, welche einen Gegendarstellungsanspruch entfallen ließe. Mit dem am 25. Mai 2018 veröffentlichten Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde eines Nachrichtenmagazins nicht zur Entscheidung angenommen, in der dieses die Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit rügt, nachdem es zum Abdruck einer Gegendarstellung verurteilt wurde.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 09. April 2018, 1 BvR 840/15

Pressemitteilung Nr. 41/2018 vom 25. Mai 2018)

Bundesverfassungsgericht

Einstweilige Anordnung:

Stadt muss ihre Stadthalle der NPD für Wahlkampfveranstaltung überlassen

Die 3. Kammer des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts hatte in einer  einstweiligen Anordnung vom 24. März 2018 einer Stadt aufgegeben, einer entsprechenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung Folge zu leisten und ihre Stadthalle dem Stadtverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) am selben Tage für die Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung zu überlassen. Die Stadt ist dieser Anordnung nicht nachgekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat die zuständige Kommunalaufsichtsbehörde deswegen aufgefordert, den Vorfall aufzuklären, notwendige aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrichten. Der Ministerpräsident, der Innen- und der Justizminister des Landes sowie der Oberbürgermeister der Stadt sind über das Schreiben informiert worden.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. März 2018, 1 BvQ 18/18, Pressemitteilung Nr. 16/2018 vom 26. März 2018)

Bundesgerichtshof

Zur Verwertbarkeit von Dashcam-Aufzeichnungen  als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess

Die vorgelegte Videoaufzeichnung ist nach den geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen unzulässig. Sie verstößt gegen § 4 BDSG, da sie ohne Einwilligung der Betroffenen erfolgt ist und nicht auf § 6b Abs. 1 BDSG oder § 28 Abs. 1 BDSG gestützt werden kann. Jedenfalls eine permanente anlasslose Aufzeichnung des gesamten Gesche-hens auf und entlang der Fahrstrecke des Klägers ist zur Wahrnehmung seiner Beweissicherungsinteressen nicht erforderlich, denn es ist technisch möglich, eine kurze, anlassbezogene Aufzeichnung unmittelbar des Unfallgesche-hens zu gestalten, beispielsweise durch ein dauerndes Überschreiben der Aufzeichnungen in kurzen Abständen und Auslösen der dauerhaften Speicherung erst bei Kollision oder starker Verzögerung des Fahrzeuges. Dennoch ist die vorgelegte Videoaufzeichnung als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess verwertbar. Die Unzulässigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung führt im Zivilprozess nicht ohne Weiteres zu einem Beweisverwertungsverbot. Über die Frage der Verwertbarkeit ist vielmehr aufgrund einer Interessen- und Güterabwägung nach den im Einzelfall gegebenen Umständen zu entscheiden. Die Abwägung zwischen dem Interesse des Beweisführers an der Durch-setzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche, seinem im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege einerseits und dem allgemeinen Persönlich-keitsrecht des Beweisgegners in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ggf. als Recht am eigenen Bild andererseits führt zu einem Überwiegen der Interessen des Klägers. Das Geschehen ereig-nete sich im öffentlichen Straßenraum, in den sich der Beklagte freiwillig begeben hat. Er hat sich durch seine Teil-nahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Es wurden nur Vorgänge auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet, die grundsätzlich für jedermann wahr-nehmbar sind. Rechnung zu tragen ist auch der häufigen besonderen Beweisnot, die der Schnelligkeit des Verkehrs-geschehens geschuldet ist. Unfallanalytische Gutachten setzen verlässliche Anknüpfungstatsachen voraus, an denen es häufig fehlt. Der mögliche Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte anderer (mitgefilmter) Verkehrsteilneh-mer führt nicht zu einer anderen Gewichtung. Denn ihrem Schutz ist vor allem durch die Regelungen des Daten-schutzrechts Rechnung zu tragen, die nicht auf ein Beweisverwertungsverbot abzielen. Verstöße gegen die daten-schutzrechtlichen Bestimmungen können mit hohen Geldbußen geahndet werden und vorsätzliche Handlungen gegen Entgelt oder in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht sind mit Freiheitsstrafe bedroht. Im Übrigen kann die Aufsichtsbehörde mit Maßnahmen zur Beseitigung von Datenschutzverstößen steuernd eingreifen. Schließlich ist im Unfallhaftpflichtprozess zu beachten, dass das Gesetz den Beweisinteressen des Unfallgeschädigten durch die Regelung des § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) ein besonderes Gewicht zugewiesen hat. Danach muss ein Unfallbeteiligter die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und die Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglichen. Nach § 34 StVO sind auf Verlan-gen der eigene Name und die eigene Anschrift anzugeben, der Führerschein und der Fahrzeugschein vorzuweisen sowie Angaben über die Haftpflichtversicherung zu machen.

(Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.5.2018, VI ZR 233/17, Pressemitteilung Nr. 88/18 vom 15.5.2018)

 

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 4 Abs. 1 BDSG:

(1) Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten sind nur zulässig, soweit dieses Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene eingewilligt hat.

 

§ 6b Abs. 1 BDSG:

(1) Die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) ist nur zulässig, soweit sie ….

3. zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. ….

 

§ 28 Abs. 1 BDSG:

(1) Das Erheben, Speichern, Verändern oder Übermitteln personenbezogener Daten oder ihre Nutzung als Mittel für die Erfüllung eigener Geschäftszwecke ist zulässig

2. soweit es zur Wahrung berechtigter Interessen der verantwortlichen Stelle erforderlich ist und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an dem Ausschluss der Verarbeitung oder Nutzung überwiegt. …

Bundesverfassungsgericht

Vorschriften zur Einheitsbewertung für die Bemessung der Grundsteuer verfassungswidrig

Die Regelungen des Bewertungsgesetzes zur Einheitsbewertung von Grundvermögen in den „alten“ Bundesländern sind jedenfalls seit dem Beginn des Jahres 2002 mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar. Das Festhalten des Gesetzgebers an dem Hauptfeststellungszeitpunkt von 1964 führt zu gravierenden und umfassenden Ungleichbehandlungen bei der Bewertung von Grundvermögen, für die es keine ausreichende Rechtfertigung gibt. Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Vorschriften mit Urteil vom heutigen Tage für verfassungswidrig erklärt und bestimmt, dass der Gesetzgeber spätestens bis zum 31. Dezember 2019 eine Neuregelung zu treffen hat. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen die verfassungswidrigen Regeln weiter angewandt werden. Nach Verkündung einer Neuregelung dürfen sie für weitere fünf Jahre ab der Verkündung, längstens aber bis zum 31. Dezember 2024 angewandt werden.

(Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 10. April 2018, 1 BvL 11/14, 1 BvR 889/12, 1 BvR 639/11, 1 BvL 1/15, 1 BvL 12/14)

Bundesgerichtshof

Für Bier darf nicht mit der Angabe "bekömmlich" geworben werden

Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. Mai 2018 entschieden, dass die Verwendung des Begriffs "bekömmlich" in einer Bierwerbung unzulässig ist.  Die Beklagte betreibt eine Brauerei im Allgäu. Sie verwendet seit den 1930er Jahren für ihre Biere den Werbeslogan "Wohl bekomms!". In ihrem Internetauftritt warb sie für bestimmte Biersorten mit einem Alkoholgehalt von 5,1%, 2,9% und 4,4% unter Verwendung des Begriffs "bekömmlich".  
Der Kläger, ein Verbraucherschutzverband, hält die Werbeaussage "bekömmlich" für eine gesundheitsbezogene Angabe im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezo-gene Angaben über Lebensmittel, die nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 bei alko-holischen Getränken mit mehr als 1,2 Volumenprozent unzulässig sei. Er hat die Beklagte auf Unterlassung und Erstattung von Abmahnkosten in Anspruch genommen.  
Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass nach Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 bei alkoho-lischen Getränken mit mehr als 1,2 Volumenprozent gesundheitsbezogene Angaben nicht nur in der Etikettierung der Produkte, sondern auch in der Werbung für diese Getränke verboten sind. Eine "gesundheitsbezogene Angabe" liegt vor, wenn mit der Angabe eine Verbesserung des Gesundheitszustands dank des Verzehrs eines Lebensmittels versprochen wird. Eine Angabe ist aber auch dann gesundheitsbezogen, wenn mit ihr zum Ausdruck gebracht wird, der Verzehr des Lebensmittels habe auf die Gesundheit keine schädlichen Auswirkungen, die in anderen Fällen mit dem Verzehr eines solchen Lebensmittels verbunden sein können. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wird der Begriff "bekömmlich" durch die angesprochenen Verkehrskreise als "gesund", "zuträglich" und "leicht ver-daulich" verstanden. Er bringt bei einer Verwendung für Lebensmittel zum Ausdruck, dass dieses im Verdauungs-system gut aufgenommen und - auch bei dauerhaftem Konsum - gut vertragen wird. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wird dieser Begriff auch im Zusammenhang der beanstandeten Werbung so  verstanden. Der Werbung lässt sich nicht entnehmen, dass mit dem Begriff "bekömmlich" nur der Geschmack des Bieres beschrieben werden soll.  
(Urteil vom 17. Mai 2018 – I ZR 252/16, Mitteilung der Pressestelle des Bundesgerichtshofs Nr. 093/2018 vom 17.05.2018)

 

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:  

 

Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006  
Der Ausdruck "gesundheitsbezogene Angabe" bezeichnet jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht.  

Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006  
Getränke mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Volumenprozent dürfen keine gesundheitsbezogenen Angaben tragen.  

 

Bundesverfassungsgericht

Ausweisung nach Tunesien trotz drohender Todesstrafe

Die Abschiebung eines Gefährders in ein Zielland, in dem ihm die Verhängung der Todesstrafe droht, verstößt nicht gegen das Grundgesetz, wenn eine Vollstreckung der Todesstrafe ausgeschlossen ist. Zusätzlich muss gewährleistet sein, dass der Betroffene die rechtliche und faktische Möglichkeit hat, die sich aus dem Verzicht auf die Vollstreckung einer Todesstrafe ergebende faktische lebenslange Freiheitsstrafe überprüfen zu lassen, so dass jedenfalls eine Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Mit dieser Begründung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde eines tunesischen Staatsangehörigen nicht zur Entscheidung angenommen und dessen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Untersagung der Abschiebung für erledigt erklärt.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 04. Mai 2018, 2 BvR 632/18

Kirchenasyl

Bloßes Kirchenasyl ist kein von der Rechtsordnung anerkanntes Rechtsinstitut

Weder der bloße Eintritt in ein Kirchenasyl noch die bloße Untätigkeit der Ausländerbehörde führen zum Wegfall einer Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 lit. c AufenthG. Kirchenasyl ist kein in der geltenden Rechtsordnung anerkanntes Rechtsinstitut. Der Eintritt in ein Kirchenasyl begründet deshalb keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Unterlässt die Ausländerbehörde die Vollziehung der Abschiebung, weil sie Kirchenasyl grundsätzlich als christlich-humanitäre Tradition toleriert, so liegt darin weder eine Ermessensduldung noch eine stillschweigende bzw. faktische Duldung und führt dies auch nicht zu einem Wegfall der Strafbarkeit.

Tritt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgrund einer mit Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche am 24. Februar 2015 getroffenen Vereinbarung in eine erneute Einzelfallprüfung ein, so liegt darin ein rechtliches Abschiebungshindernis, das einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG begründet, solange die Einzelfallprüfung anhält.

(OLG München 4. Strafsenat, Urteil vom 03.05.2018, 4 OLG 13 Ss 54/18)

Beamtenrecht

Mängel einer dienstlichen Beurteilung

Die fehlende Begründung des Gesamturteils einer dienstlichen Beurteilung kann nicht nachgeholt werden. Der Dienstherr muss in Anwendung seiner Beurteilungsrichtlinien eine neue dienstliche Beurteilung erstellen, um den Fehler zu heilen.

(Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.05.2018, OVG 4 S 43.17)

Beamtenrecht

Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung

Stützt sich der Dienstherr auf die wegen erheblicher Fehlzeiten vermutete Dienstunfähigkeit nach § 26 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG und hat er keine Erkenntnisse über den Grund der krankheitsbedingten Fehlzeiten, muss er in der Untersuchungsaufforderung nicht näher ausführen, in welcher Hinsicht Zweifel am körperlichen Zustand oder der Gesundheit des Beamten bestehen.

(Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.04.2018, 6 B 68/18)

Grundstücksverkauf

Freiwilliges Bieterverfahren durch eine Gemeinde

Führt eine Gemeinde für den Verkauf eines Grundstücks freiwillig ein "Bieterverfahren" mit Ausschreibung durch, entsteht zwischen ihr und den Teilnehmern des Verfahrens ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis, das sie zu Gleichbehandlung der Teilnehmer, Transparenz und Rücksichtnahme verpflichtet (Anschluss an BGH, Urt. v. 22.02.2008 - V ZR 56/07 - BauR 2008, 736 und Urt. v. 12.06.2001 - X ZR 150/99 - DVBl. 2001, 1603). Ein solches vorvertragliches Rechtsverhältnis ist grundsätzlich dem bürgerlichen Recht zuzuordnen. Vor den Zivilgerichten auszutragen sind daher grundsätzlich insbesondere Rechtsstreitigkeiten um die Frage, ob ein solches Bieterverfahren wirksam aufgehoben wurde, ob ein Bieter zu Unrecht nicht zum Zuge kam und ob ihm ein Anspruch zusteht, der Gemeinde die Erteilung des Zuschlags an einen anderen Bieter zu untersagen.

(Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.04.2018, 1 S 2403/17)

Beamtenrecht

Regelungen zum Hochschulkanzler auf Zeit verfassungswidrig

Das Lebenszeitprinzip als grundgesetzlich geschützter hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums beinhaltet nicht nur die grundsätzliche Anstellung der Beamten auf Lebenszeit, sondern auch die lebenszeitige Übertragung des jeweiligen Amtes. Der Unentziehbarkeit dieses sogenannten statusrechtlichen Amts kommt grundlegende Be-deutung zu, weil sie den Beamten die im Interesse ihrer Bindung an Gesetz und Recht erforderliche Unabhängigkeit sichert. Vor diesem Hintergrund hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss auf eine Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts hin festgestellt, dass die Vorschriften des Bran-denburgischen Hochschulrechts, welche eine Berufung von Hochschulkanzlern in ein Beamtenverhältnis auf Zeit vorsehen, gegen die Verfassung verstoßen. Zur Begründung hat er angeführt, dass die Ausgestaltung eines Beam-tenverhältnisses auf Zeit als Eingriff in das Lebenszeitprinzip nur mit Blick auf die Besonderheiten des betroffenen Sachbereichs und der damit verbundenen Aufgabenwahrnehmung gerechtfertigt werden kann. Im Rahmen der konkreten Bewertung der branden-burgischen Regelungen hat der Senat keine besonderen Sachgesetzlichkeiten identifizieren können, die eine Ausnah-me vom Grundsatz der lebenszeitigen Anstellung und Übertragung des statusrechtlichen Amtes erforderlich machen. Insbesondere ist die Zu- und Unterordnung des Hochschulkanzlers zur Verantwortungssphäre des Hochschulpräsi-denten kein hinreichender Sachgrund für die Berufung in ein Beamten-verhältnis auf Zeit und der Kanzler nicht mit politischen Beamten oder kommunalen Wahlbeamten vergleichbar.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. April 2018, 2 BvL 10/16)

Bundesverfassungsgericht

Zum bundesweiten Stadionverbot eines Fußballanhängers

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich mit einem heute veröffentlichten Beschluss zu einem Stadionverbot mit der Ausstrahlungswirkung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots des Art. 3 Abs. 1 GG in das Zivilrecht befasst. Der Senat hat die Verfassungsbeschwerde eines mit einem bundesweiten Stadionverbot belegten Fußballanhängers als unbegründet zurückgewiesen. Dabei hat er festgestellt, dass dieses Verbot am Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen ist. Zur Begründung hierfür hat er angeführt, dass sich zwar auch nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung kein objektives Verfassungsprinzip entnehmen lässt, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Mittelbare Drittwirkung entfaltet der allgemeine Gleichheitssatz aber dann, wenn einzelne Personen mittels des privatrechtlichen Hausrechts von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, die von Privaten aufgrund eigener Entscheidung einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und wenn der Ausschluss für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Die Veranstalter dürfen hier ihre Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen. Ein Stadionverbot kann allerdings auch ohne Nachweis einer Straftat auf eine auf Tatsachen gründende Besorgnis gestützt werden, dass die Betroffenen künftig Störungen verursachen werden. Die Betroffenen sind grundsätzlich zuvor anzuhören und ihnen ist auf Verlangen vorprozessual eine Begründung mitzuteilen.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. April 2018, 1 BvR 3080/09)

Presserecht

Anspruch auf Gegendarstellung trotz unterlassener Stellungnahme im Vorfeld einer Berichterstattung

Der Anspruch auf Abdruck einer Gegendarstellung besteht auch dann, wenn die betroffene Person zuvor keine Stellungnahme zu einer geplanten Berichterstattung abgegeben hat, obwohl der Redakteur ihr eine solche Möglichkeit eingeräumt hat. Eine unterlassene Erklärung begründet grundsätzlich keine Obliegenheitsverletzung, welche einen Gegendarstellungsanspruch entfallen ließe. Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde eines Nachrichtenmagazins nicht zur Entscheidung angenommen, in der dieses die Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit rügt, nachdem es zum Abdruck einer Gegendarstellung verurteilt wurde.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 09. April 2018, 1 BvR 840/15) 

OVG Münster

Ausschluß eines Fraktionsmitglieds

Nicht jeder Dissens stellt einen die Ausschließung eines Fraktionsmitglieds rechtfertigenden Grund dar, sondern nur solche Umstände, die das Vertrauensverhältnis nachhaltig und derart stören, dass eine weitere Zusammenarbeit den übrigen Fraktionsmitgliedern nicht zugemutet werden kann. (Es) .... gilt das Grundprinzip, dass ein unter der Voraus-setzung grundsätzlicher Übereinstimmung der Beteiligten und mit dem Ziel ihrer persönlichen Zusammenarbeit auf längere Dauer eingegangenes Rechtsverhältnis aus wichtigem Grund beendet werden können muss. Die mit der Bildung einer Fraktion verfolgten politischen Zwecke lassen sich nur solange erreichen, wie die Mitglieder der Fraktion zumindest in den Grundsatzfragen einig und in Randfragen zu Kompromissen bereit sind. ... Der danach notwendige Grundkonsens wird weder durch jede Meinungsverschiedenheit der Fraktionsmitglieder noch durch jedes abwei-chende Verhalten einzelner bei Abstimmungen im Rat oder in dessen Ausschüssen in Frage gestellt. Der Sinn der fraktionsinternen Meinungsbildung besteht gerade darin, unterschiedliche Auffassungen nach Möglichkeit miteinander in Einklang zu bringen, setzt aber nicht voraus, dass dies immer und ausnahmslos gelingt. Hieraus folgt, dass nicht jeder Dissens einen die Ausschließung einzelner Fraktionsmitglieder rechtfertigenden Grund darstellt, sondern nur solche Umstände, die das Vertrauensverhältnis nachhaltig und derart stören, dass eine weitere Zusammenarbeit den übrigen Fraktionsmitgliedern nicht zugemutet werden kann.

(OVG Münster, Beschluss vom 15.3.2018, 15 A 1211/16)

 

Unfallversicherung

Kein Versicherungsschutz auf dem Weg vom Arzt zum Betrieb

​Wer während der Arbeitszeit einen Arzt besucht und auf dem Rückweg zum Betrieb einen Verkehrsunfall hat, hat keinen Arbeitsunfall. Die Wiederherstellung der Gesundheit ist dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen.

Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit seien dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen und daher unversichert, entschied das SG. Dabei sei es unerheblich, dass der Arztbesuch auch der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit betrieblichen Belangen diene. Der Arbeitnehmer habe nicht davon ausgehen können, mit dem Arztbesuch eine vermeintliche Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis zu erfüllen. Schließlich liege kein Wegeunfall vor, weil der Mann sich zum Zeitpunkt des Unfalls nicht auf einem versicherten Weg von einem dritten Ort zu seiner Arbeitsstätte befunden habe. Hierfür habe er sich mindestens zwei Stunden in der Arztpraxis aufhalten müssen, was jedoch nicht der Fall gewesen sei.

(SG Dortmund, Urteil vom 28.02.2018, S 36 U 131/17)

Arbeitsrecht

Fristlose Kündigung wegen ausländerfeindlichen Verhaltens

Veröffentlicht ein Arbeitnehmer auf einer rechtsradikalen Facebook-Seite unter seinem Namen und in Straßenbahnuniform ein Foto mit einer meckernden Ziege mit der Sprechblase "Achmed, ich bin schwanger", so kann dies eine fristlose Kündigung der im Eigentum einer Stadt stehenden Straßenbahngesellschaft rechtfertigen.

(Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 27.02.2018, 1 Sa 515/17 - anhängig beim BAG, 2 AZN 268/18)

Öffentlicher Feuerwehrdienst

Bereitschaftsdienst zu Hause: Arbeitszeit oder Ruhezeit?

Art. 2 der Richtlinie 2003/88 ist dahin auszulegen, dass die Bereitschaftszeit, die ein Arbeitnehmer zu Hause verbringt und während deren er der Verpflichtung unterliegt, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten, wodurch die Möglichkeit, anderen Tätigkeiten nachzugehen, erheblich eingeschränkt ist, als "Arbeitszeit" anzusehen ist.

(EuGH, Urteil vom 21. Februar 2018, C-518/15)

Beamtenrecht

Anfechtungsklage nach Erledigung des Konkurrentenstreits durch Vornahme der Ernennung

Erledigt sich in einem beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit das auf Verhinderung einer Ernennung der ausgewähl-ten Konkurrenten gerichtete einstweilige Anordnungsverfahren dadurch, dass der Dienstherr entgegen einem verwal-tungsgerichtlichen Zwischenbeschluss die beabsichtigten Ernennungen vornimmt, kann dem im Auswahlverfahren unterlegenen Beamten gerichtlicher Rechtsschutz nur noch im Wege der - als Primärrechtsschutz für etwaige Scha-densersatzansprüche erforderlichen - Anfechtungsklage gegen die Ernennungen gewährt werden. Der Grundsatz der Ämterstabilität gilt in diesen Fällen nicht. Allerdings kann eine Ernennung, die gegen die Rechte des unterlegenen Bewerbers aus Art. 33 Abs. 2 GG verstößt, lediglich mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden.

(OVG Saarlouis, Beschluß vom 16.2.2018, 1 B 1/18)

Bundesgerichtshof

Fluggäste müssen einen ausreichenden Zeitpuffer für die Sicherheitskontrollen an Flughäfen einkalkulieren

Jeder Passagier muss einen ausreichenden "Zeitpuffer" für die Sicherheitskontrollen am Flughafen einkalkulieren, da diese von ihm und den Sicherheitsmitarbeitern nicht vollständig beeinflussbaren Betriebsabläufe einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen können. Hierauf muss er sich einstellen. Derjenige, der erst eine knappe Stunde vor dem Abflug und eine halbe Stunde vor dem "Boarding" bei der Sicherheitskontrolle eintrifft, begibt sich in die von vornherein vermeidbare Gefahr, infolge einer sachgemäß verlaufenden Handgepäckkontrolle seinen Flug zu verpas-sen. Der für diese Kontrolle dann noch zur Verfügung stehende Zeitraum ist üblicherweise und so auch hier äußerst knapp bemessen und mit unnötiger Verspätungsgefahr verbunden. Verwirklicht sich diese Gefahr, so hat der Passa-gier die hieraus folgenden Nachteile zu tragen, da er die Gefahrenlage und das mit ihr verbundene Verspätungsrisiko maßgeblich mit geschaffen hat.

(Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.12.2017, III ZR 48/17)

Kfz-Kaskoversicherung

Kürzung der Versicherungsleistung auf Null bei Verkehrsunfall mit einer einer Blutalkoholkonzentration von mehr als zwei Promille

Hat der Versicherungsnehmer bei einem Unfallereignis eine BAK von mehr als 2 Promille, liegt ein besonderer Ausnah-mefall vor, der eine Kürzung der Versicherungsleistung in der Kaskoversicherung "auf Null" rechtfertigt. Im Fall einer grob fahrlässigen Verletzung einer vom Versicherungsnehmer zu erfüllenden Obliegenheit nach § 28 Abs. 2 S. 2 Halbs. 1 VVG, § 2 b (e), § 2 c (1) a), (2) a) AKB ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Ver-schuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Bei der Kürzung der Versicherungsleistung sind sämtliche Umstände des Einzelfalles abzuwägen. Das gilt grundsätzlich auch bei alkoholbedingter Fahruntauglich-keit. Das Maß der Kürzung ist an die Schwere des Verschuldens zu knüpfen. Dabei spielt die jeweilige Blutalkoholkon-zentration eine erhebliche Rolle, da bei einem höheren BAK-Wert in der Regel auch von einem entsprechend höheren Verschulden ausgegangen werden kann. Eine Leistungskürzung des Versicherers auf null ist allerdings nur in besonde-ren Ausnahmefällen möglich. Dies kann etwa bei der Herbeiführung des Versicherungsfalles im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit, der bei Werten ab 1,1 Promille anzunehmen ist, in Betracht kommen, da sich derartige Fälle in der Regel im Grenzgebiet zwischen grober Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz bewegen (vgl. BGH Urt. v. 22.06.2011, IV ZR 225/10).

(OLG Dresden, Beschluss vom 13.11.2017, 4 U 1121/17)

Bauvertrag

Umfang des Schadensersatzanspruchs wegen Baumängel

Macht der Bauherr einen Schadensersatzanspruch nach §§ 634, 635 BGB wegen Baumängeln geltend, kann er grundsätzlich und zweifelsohne nicht nur den unmittelbaren Mangelschaden, sondern alle Vermögensnachteile ersetzt verlangen, die infolge seiner Dispositionen sicher anfallen. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Schadensrechts muss dabei aber gewährleistet sein, dass ihm kein Überschuss verbleibt, denn darauf hat er keinen Anspruch. Dementsprechend besteht für einen vom Bauherrn geltend gemachten Zahlungsanspruch bezüglich mit der Beseitigung der festgestellten Schallmängel am Bauwerk verbundener, eventuell anfallender Folgekosten für eine Räumung während der Mängelbeseitigung derzeit kein Zahlungsanspruch, wenn nicht sicher ist, ob diese überhaupt anfallen. Auch für eventuell durch die Mangelbeseitigung anfallende Flächenverluste steht dem Bauherrn kein Zahlungsanspruch zu, wenn auch insoweit nicht feststeht, dass dieser Schaden sicher entsteht, da er noch keine Dispositionen zur tatsächlichen Schadensbeseitigung getroffen hat.

(OLG München, Beschluss vom 25.09.2017, 9 U 4712/16 Bau)

Bundesverwaltungsgericht

Amtliche Äußerung eines Oberbürgermeisters im politischen Meinungskampf

Leitsatz:

1. Amtliche Äußerungen eines kommunalen Amtsträgers im politischen Meinungskampf sind nur innerhalb des ihm zugewiesenen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs zulässig.

2. Die Befugnis zu amtlichen Äußerungen, die sich gegen eine nicht zu den politischen Parteien zählende politische Gtuppierung richten, findet ihre Grenze nicht in dem politischen Parteien gegenüber geltenden Neutralitätsgebot, wohl aber in dem für jedes staatliche Handeln geltenden Sachlichkeitsgebot. Dieses verlangt, dass sich die amtlichen Äußerungen am Gebot eines rationalen und sachlichen Diskurses ausrichten und auf eine lenkende Einflussnahme auf den Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung verzichten.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13.09.2017, 10 C 6/16)

Bundesverwaltungsgericht

Zulässigkeit von Ladenöffnungen an einem Sonntag

Die Ladenöffnung an einem Sonntag ist verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn ein hinreichender Sachgrund für sie besteht. Das Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und das "Shopping-Interesse" der Kunden genügen hierfüt nicht. Je weitreichender die Freigabe der Ladenöffnung in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sowie in Bezug auf die einbezogenen Handelssparten und Warengruppen ist, umso höher muss angesichts der stärkeren werktäglichen Prägung des Tages das Gewicht der für die Ladenöffnung angeführten Sachgründe sein. Ob ein verfassungsrechtlich tragfähiger Sachgrund für die sonntägliche Ladenöffnung gegeben ist, unterliegt - abgesehen von Prognosen künftiger Ereignisse - uneingeschränkter gerichtlicher Überprüfung.

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17. Mai 2017, 8 CN 1/16)

bottom of page